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DAS PHÄNOMEN SERGEJ EISENSTEIN

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Nicht lang vor dem Einmarsch der deutschen Armee in die Sowjetunion, noch in der kurzen Zeit der offiziellen, durch einen Pakt besiegelten Freundschaft der beiden Völker, inszenierte Sergej Michailowitsch Eisenstein, als Regisseur des Films „Panzerkreuzer Potemkin“ weltbekannt, im Bolschoj-Theater die „Walküre“ von Richard Wagner. Eisenstein griff in seiner Inszenierung auf seine Studien der Psychoanalyse und der Anthropologie zurück. Er ließ die Sänger nicht als bloße Instrumente der Oper auftreten, sondern als Gestalten eines emotionellen Dramas in einer prähistorischen Gesellschaft, die an der Grenze zwischen Inzestfreiheit und Inzesttabu lebt. Darsteller, Bühne, Kostüm und Musik waren in der Neuinszenierung tatsächlich zu einer Einheit verschmolzen, so wie es sich Richard Wagner von einem Gesamtkunstwerk vorgestellt haben mochte. Während auf der Bühne Hunding und Siegmund um Sieglinde kämpften, hoben sich zwei Berge und oszillierten im Rhythmus des Kampfes.

Die Inszenierung war eine Ironie der Geschichte auf mehreren Ebenen und bezeichnend für Eisensteins Schicksal. Väterlicherseits war der Regisseur jüdischer Abstammung. Er hatte darunter zwar nicht in der Sowjetunion selbst, aber während seines Aufenthaltes in Amerika zu leiden gehabt. Dort hatte er an Hand der Negerverfolgungen auch eine andere Form der rassischen Diskriminierung kennengelernt. Obwohl Goebbels den Filmschaffenden des Dritten Reiches den „Panzerkreuzer Potemkin“ als Muster hinstellte, wandte sich Eisenstein mehrmals leidenschaftlich und in der Öffentlichkeit gegen die Rassenpolitik der Nationalsozialisten in Deutschland. Nach dem deutsch-sowjetischen Pakt aber zwang ihn die Partei, zum deutschen Volk, dessen Sprache er perfekt beherrschte, ebenso wie übrigens die französische und englische, über die Freundschaft beider Völker und die Zweckmäßigkeit eines Kulturaustausches zu sprechen. In demselben Theater, in dem er die „Walküre“, Quintessenz deutschen Geistes, inszenierte, hatte er die höchste Auszeichnung seiner Heimat, den Lenin-Orden empf .ngen, ausgerechnet für einen Film, „Alexander Nevski“, der ein Beispiel teutonischer Aggression danstellte und überdies als historischer Ausstattungsfilm das Ergebnis von Eisensteins Auseinandersetzung mit der Parteikritik viel mehr als mit seinen eigenen Filmideen war. Im Bolschoj-Theater hatte er auch eben jene Kritik über sich ergehen lassen müssen und überdies die größte Demütigung seiner Laufbahn als Filmregisseur: Während Pudovkin, Dovschenko, Vassiliev und sein früherer Assistent Trauberg dort die höchste Auszeichnung der Sowjetunion empfangen hatten, war dem Regisseur des berühmten „Potemkin“ nur der Titel eines Verdienten Künstlers zuteil geworden.

Im Jahr der Oktoberrevolutiöri war Sergej Michailowitsch Eisenstein neunzehn Jahre alt, hatte die sorgfältige Erziehung des russischen Mittelstandes erhalten, und seine künstlerische Begabung zeigte sich im Zeichnen. Die Revolution hatte ihn vom Vater getrennt, der auf der Seite der Weißen kämpfte, und seine Mutter war schon vor Jahren nach Paris geflohen. Eisenstein engagierte sich, wie die gesamte russische intellektuelle Jugend, mit ganzer Überzeugung im Kampf der Bolschewiken gegen die alte Gesellschaftsordnung. Er zog mit den kämpfenden Truppen umher und zeichnete Aufrufe, Plakate, Transparente. Als die Revolution zu Ende war, ging Eisenstein nach Moskau, um Japanisch zu studieren. In der Hauptstadt erhielt eine Lebensmittelkarte nur, wer eine Arbeitsstelle nachweisen konnte. Eisenstein irrte einige Tage in Moskau herum, dann traf er Maxim Strauch, einen Jugendfreund aus Riga. Strauch brachte ihn zum Proletkulttheater, und anstatt japanische Schriftzeichen zu lernen, zeichnete er Kulissen und arbeitete auf der Bühne.

Das Proletkulttheater entstand aus der politischen Pro-

paganda der Revolution, den Agitprop-Einheiten. Sein Ziel war es, in theatralischer Form die Ziele der Revolution den Arbeitern näherzubringen. Eisensteins Interessen hatten bis dahin der Technik, der Architektur und dem Sprachstudium gegolten. Im Verband des Proletkulttheaters, wo jeder ein Mitspracherecht hatte, zeigte sich sofort seine kreative Begabung. Nach kurzer Lehrzeit wurde er zum Bühnenbildner ernannt, und etwas später wurde er auch Koregisseur. Er inszenierte im Proletkulttheater die Bearbeitung von Jack Londons Erzählung „Der Mexikaner“ und Shakespeares „Macbeth“, dann in einem kleinen Studio, dem Mastfor, drei Vaudeville-Stücke, später engagierte ihn der berühmte Theaterregisseur Meyerhold als Bühnenbildner für ein Shaw-Stück. 1922 kehrte er zum Proletkulttheater als Regisseur zurück. „Der weiße Mann“, ein Stück von Ostrowskij, zeigte alle Elemente, die Eisenstein in das Theater einführte. Es war vor allem der Zirkus mit seinen Akrobaten und Clowns, der Eisenstein faszinierte und den er auf das Theater übertrug. Alle Schauspieler hatten akrobatische Ausbildung. Eisenstein ließ die Emotionen der Personen Ostrowskijs nicht mit den traditionellen Mitteln des Theaters darstellen, sondern synchron zur Bedeutung des Textes mit einem Kopfstand, einem Salto, einem Klimmzug. Die Bühne war mitten unter den Zuschauern placiert wie die Zirkusarena. Die Kostüme waren Clownkostüme mit Anklängen an die Commedia dell’arte und an die Chaplin- schen Filmburlesken. In dieser Inszenierung verwendete Eisenstein auch einen kurzen Film, der als Element der Handlung eingeführt wurde.

Kurz nach dieser Inszenierung half Eisenstein bei der Einrichtung von Fritz Langs „Dr. Mabuse“ für die Sowjetunion mit. Er kannte beide Richtungen im russischen Film der Nachrevolution, die experimentellen Wochenschauen Vertovs und die Storyfilme Kuleschovs und Pudovkins. Bei der Herstellung des Kurzfilms für seine Inszenierung hatte

Eduard Tisse, einen jungen Kameramann, kennengelernt.

Er begann sich der Möglichkeiten des Films für die Verwirklichung seiner Ideen über das Kunstwerk bewußt zu werden, als Möglichkeit, Emotionen und Vorstellungen der Zuschauer planmäßig zu manipulieren. Eisenstein war seiner intellektuellen Veranlagung nach ein Theoretiker, der sich um die Synthese der bisherigen ästhetischen Versuche bemühte.

Bestimmend waren dabei vier Elemente: sein Studium der Psychoanalyse, seine Verehrung für Leonardo da Vinci, sein

Kindheitserlebnis der Zirkuswelt und seine Beschäftigung mit dem synthetischen Charakter der japanischen Schriftzeichen. Die Psychoanalyse machte ihm die Möglichkeiten bewußt, durch Symbole Emotionen zu manipulieren. 'Die Zirkuswelt mit der. strengen Disziplin in Mimik und Bewegung der Akrobaten und der Clowns war für ihn ein Vorbild in der Führung der Darsteller. Die japanischen Schriftzeichen als synthetische Gebilde mehrerer einfacher, leicht identifizierbarer Bildsymbole machten ihm zum erstenmal das Prinzip der Montage anschaulich. Leonardo da Vinci war schließlich ein Vorbild für ihn selbst als Wissenschaftler und Künstler, in dieser Reihenfolge und Einheit. Er begann die Kunst, und als deren letzte und beste Möglichkeit den Film, als Wissenschaft zu sehen, mit deren Hilfe Emotionen und Gedankengut der Zuschauer präzise gelenkt werden könnten.

Der erste Film, den er mit Tisse und einem Assistenten aus den Theaterzeiten, dem Schauspieler Alexandrov, machte, war der „Streik“, und darin wandte er zum erstenmal im Film die Methode der Montage an. Die letzten zwanzig Einstellungen dieses Films über eine Episode aus der Geschichte der Revolution sind eine Sequenz aus Bildern einer Stierschlachtung und des Zusammenbruchs des Streiks im Kugelregen der zaristischen Polizei. Das nächste Projekt war eine Folge von acht Episoden über den Aufstand des Jahres 1905. Die einzige Episode, die realisiert wurde, war die Rebellion der Matrosen auf dem Panzerkreuzer Potemkin.

„Potemkin“ wurde ein unmittelbarer Erfolg im Ausland und in Rußland selbst. Dem damals siebenundzwanzigjährigen Regisseur brachte der Film Weltruhm ein und in dessen Folge zahlreiche Einladungen ins Ausland. Eine davon sollte weitreichende Konsequenzen haben.

Sie führte zu einem der skandalösesten Vorfälle in der Geschichte der Kunst überhaupt. Eisenstein wurde nach Amerika eingeladen, wo ihm die Paramount in Hollywood ein Angebot machte und schließlich einen Kontrakt gab. Eisenstein war allerdings unfähig, sich den rein kommerziellen Erwägungen, die in Hollywood maßgebend waren, anzupassen, und deshalb wurde keines der Projekte, die man erwog, verwirklicht. Auch setzte von Seiten einiger patriotischer Organisationen ein Kesseltreiben gegen den „jüdischen Kommunisten“ ein. Eisenstein reiste nach Mexiko, zuvor schloß er jedoch einen Vertrag über die Finanzierung eines Mexiko-Films ab, mit dem Schriftsteller Upton Sinclair und seiner damaligen Frau. Der Vertrag war unglücklich formuliert, er gestand, wie sich später zeigte, dem Regisseur nur das Recht zu, nach eigenem Gutdünken Aufnahmen in Mexiko zu machen. Eisenstein dachte nicht daran, daß man in Amerika bei der Herstellung von Filmen eine strenge Unterscheidung einzelner Herstellungsprozesse machte.

In „Que viva Mexico!“ wollte Eisenstein alles das verwirklichen, was er seit Jahren durchdacht hatte. In Rußland hatte er noch einen Film gedreht, „Das Alte und das Neue“. Dieses Werk stieß bei der Kritik nicht auf das gleiche Verständnis wie „Potemkin“. Eisenstein hatte damit einen reinen Gedankenfilm gemacht, zu dessen Verständnis eine universelle Bildung nötig war, denn jede Einstellung war auf verschiedenen symbolischen Ebenen komponiert, die allesamt Bezug auf andere Wissens- und Kunstgebiete hatten. Nachdem Eisenstein ungefähr 70.000 Meter Film über Mexiko gedreht hatte, untersagte ihm Upton Sinclair jede weitere Aufnahmetätigkeit. Weil die Filme nach den USA zur Entwicklung geschickt werden mußten, hatte Sinclair die einzige Arbeitskopie in der Hand und war nach dem Vertrag nicht gezwungen, sie dem Regisseur zum letzten Schnitt auszuliefern. Der Skandal ging durch die ganze Welt. Eisenstein kehrte in die Sowjetunion zurück. Obwohl mehrmals sowohl von amerikanischen Freunden Eisensteins wie auch von sowjetischer Seite Angebote an Sinclair ergingen, eine Arbeitskopie anzukaufen, um Eisenstein die Fertigstellung des Films zu ermöglichen, weigerte sich der Schriftsteller bis zum Schluß, das Material herauszugeben. Er ließ daraus mehrere Schulfilme herstellen, aus denen er einen Wahlkampf und die Unterbringung seiner Bücher in Leihbüchereien finanzierte. Es existieren zwar einige Fassungen des Films,, darunter eine von Marie Spaton,, der Schülerin Eisensteins, aber keine von Eisenstein selbst. Eisenstein verwand den schweren Schlag nur langsam.. Er Widmete sich längere Zeit nur der Lehrtätigkeit, während der er seine Theorie des Films immer mehr vertiefte. Seinen nächsten Film, „Bezhin Luk“, mußte er, diesmal auf Weisung der Zentralen Planstelle für die Filmindustrie, ebenfalls unbeendet lassen. Auch dieses Ereignis hatte heftige Reaktionen in der ganzen Welt zur Folge.

Für „Alexander Nevski“ erhielt Eisenstein Assistenten zur Seite gestellt, die ihn auf der von der Partei verlangten Linie halten sollten. Erst für „Ivan der Schreckliche“ bekam er wieder mehr künstlerische Freiheit zugestanden. Trotzdem versuchte sich Eisenstein immer ehrlich selbst zu überzeugen, daß die Partei, nicht er, recht hatte. Vor Vollendung des dritten Teiles zu „Ivan der Schreckliche“ starb Eisenstein, fünfzig Jahre alt, in der Welt berühmt und auch in der Heimat mit Ehren überhäuft, wenngleich verkannt. Nächste Woche zeigt die Albertina eine Ausstellung seiner Graphiken und Entwürfe für das Theater und den Film; das österreichische Filmmuseum veranstaltet eine Retrospektive seines Fiimwerks.

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