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DER SIEG DES MENSCHLICHEN

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IM JÄNNER 1945 wurde in Moskau der erste Teil von „Iwan der Schreckliche” urauf- geführt. Es war ein Ereignis — gesellschaftlich wie künstlerisch. Das Werk trug seinem Schöpfer den Stalin-Preis I. Klasse ein. Ein Jahr später: Man gab dem solcherart Ausgezeichneten einen Empfang, um ihn zum Jahrestag der Verleihung zu ehren. Er amüsierte sich dabei, scherzte und tanzte und — brach zusammen. „Wenn Sie sich rühren”, sagte der herbeigerufene Arzt, „sind Sie ein toter Mann.”

Der von einer Herzattacke Gefällte erhob sich dennoch, wurde in die Kremlklinik gebracht, erholte sich etwas, gesundete jedoch nie mehr. Zwei Jahre Später: Ein Staatsbegräbnis mit öffentlicher Aufbahrung, defilierender Menge usw. wurde angeordnet. Am 10. Februar 1948 starb, fünfzigjährig, einer der größten, wenn nicht der größte Filmregisseur der Welt: Sergej Mikhailo- witsch Eisenstein.

„IWAN DER SCHRECKLICHE” war sein letzter Film. Der erste Teil erschien, der zweite wurde — verboten. Das Zentralkomitee der KPdSU hatte erhebliche Einwände gegen ihn erhoben: er sei „falsch”, er verstoße gegen die „geschichtliche Wahrheit”; Eisenstein habe in ideologischer Hinsicht „schädlich” und letzten Endes „unverantwortlich” gehandelt. „Es geht nicht an”, schrieb ein sowjetischer Kritiker, „daß die Geschichte nur-rtoch ein -Vorwand für1 formale ‘Experirrrcnte ist;” ‘

Jetzt läuft der Film auch in der Sowjetunion. Seine westliche Premiere erlebte er in den letzten Tagen der Weltausstellung in Brüssel. Mit zwölf Jähren Verspätung. Und als Torso.

IN DER BRÜSSELER FASSUNG fehlt einiges. Zum Beispiel am Schluß die farbige Sequenz des „Jüngsten Gerichts”, der eigentliche Höhepunkt des Werkes. Noch eine andere Partie war ursprünglich in Farbe gehalten, der Tanz nämlich, der ein Fest im Kreml krönt — immerhin enthält die vorliegende Kopie wenigstens diese Szene, wenn auch nur schwarzweiß.

Es bleibt zu bedauern, daß von dem, der noch in der Todesstunde an einem Buch „Die Theorie des Farbfilms” gearbeitet hatte, kein einziger Meter . farbigen Zelluloids als praktischer Niederschlag seiner Studien zu sehen ist. Was veranlaßt die Sowjets zu dieser Zurückhaltung?

DER GESAMTE „IWAN” wurde 1941 konzipiert. In fünfjähriger Arbeit drehte Eisenstein 42.000 Meter Film, teils in Moskau, teils (nach der kriegsbedingten Evakuierung des Ateliers) in Alma Ata. Aus diesem Material hätte man gut und gerne ein ganzes Dutzend programmfüllender Streifen fertigen können; indes wurden nur zwei Filme hergestellt — ein dritter war vorgesehen, doch unterblieb die endgültige Montage.

Dieses „ambitionierteste aller Filmvorhaben” (Marie Seton in ihrer Eisenstein-Biographie) gehörte, wie „Alexander Newskij” und andere Historienfilme, zu den „stimmungmachenden” Produktionen während des Krieges. Am Ende wurde es, jedem Einfluß, jeder Kontrolle von außen entzogen, zu einem der bedeutendsten Kunstwerke der Kinematographie.

FOLGENDES WIRD DARIN DARGESTELLT: Zar Iwan, vom Volk gerufen, wieder in Moskau residierend, erfährt, daß Euphrosinia St;ariskaja, eine Tante, die die feindseligen Bojaren anleitet, seine Frau vergiftet hat. Er geht gewalttätig gegen die Adeligen vor. Die Ueberlebenden versuchen sich zu rächen. In der Kathedrale findet ein Mysterienspiel „Die Jünglinge im Feuerofen’ statt, bei dem Iwan öffentlich mit Nabuchodonosor identifiziert wird. Der Metropolit fordert seine Unterwerfung unter die Kirche. Sie wird verweigert. Die Beseitigung der Bojaren geht weiter. Euphrosinia plant die Ermordung des Zaren; ihr Soljn Wladimir Andre- jewitsch soll seine Stellung einnehmen. Nach einem nächtlichen Gelage im Kreml, bei dem Iwan seinen „Nachfolger” in die Throngewänder kleiden läßt, geschieht der Mord in der Kirche — jedoch am falschen Zar, an Wladimir. Der rechtmäßige Herrscher triumphiert (dem Szenario zufolge jedoch erst nach der ihn erniedrigenden Szene des „Jüngsten Gerichts”).

Dynastische Konflikte, Auseinandersetzungen mit dem altrussischen Adel und der Orthodoxen Kirche beinhaltet also der Film. „Hier wird schmutzige Familienwäsche gewaschen”, erklärte ein verdrossener Mitarbeiter.

OB S. M. EISENSTEIN diesen Teil der russischen Geschichte richtig interpretiert hat, interessiert hier um so weniger, als die Auffassungen über Zar Iwan Wassiljewitsch IV., genannt „der Schreckliche” (was in der Uebersetzung des „grosnij” nur teilweise zutrifft: es heißt eigentlich „streng”, „grimmig”, „drohend”, in gewisser Hinsicht auch „groß”, „gewaltig”, „erhaben”), nicht nur im Osten differieren. Der Regisseur bot über sein eigenwilliges historisches Bild hinaus mehr, viel mehr, und eben dies macht seinen Film auch für den außenstehenden, den außersowjetischen Zuschauer interessant, ja faszinierend.

Es ist — im Grunde ganz uneisensteinisch — das Menschliche, das, was hinter dem Zar, dem Herrscher, dem „homo politicus” steht. Gewiß gibt es da die sich auslebende Renaissancenatur, den Vernichter der Bojarenoligarchie, den omnipotenten Träger der Macht; aber dieser, intelligent genug, erkennt auch ihre Problematik, leidet unter ihr, fragt nach ihrem Ursprung und Ziel und stößt dabei auf Gott. Iwan war — und Eisenstein zeigt das — nicht nur ein eminent politischer, sondern auch ein bewußt religiöser Mensch, ein „Mystiker”, der sich als göttlich beauftragt, als Instrument des „Zars des Himmels” betrachtete, der eschatologisch, auf die „letzen Dinge” hindachte, sich nicht nur der Vergänglichkeit von Person und Werk, sondern auch ihrer Verantwortung bewußt war, dessen Jenseitserwartungen sehr wohl die Gewißheit einsthlossen, daß das, was er tat oder unterließ, dermal einst belohnt oder bestraft werden würde. Er glaubte an eine Vergeltung, an das „Jüngste Gericht”.

ES IST, WIE ES SCHON GESCHEHEN IST, müßig, nach Parallelen zwischen dem Leben des Regisseurs und dem seines Helden zu suchen. Hier kann mehr oder weniger willkürlich alles aufeinander bezogen werden — so etwa Eisensteins Haß gegen seine Mutter, der (angeblich) in der psychoanalytisch zu verstehenden Zeichnung von Iwans Gegenspielerin Euphrosinia zum Ausdruck kommt, bis hin zu den Szenen im sakralen Raum, worin sich (dem Vernehmen nach) Eisensteins Rückkehr zum mosaischen Glauben bekunde.

Sicherlich gibt es da, wie bei jeder künstlerischen Betätigung, Zusammenhänge. Indessen sind sie für die Würdigung des Werkes unerheblich. Hier zählen mehr der Inhalt, der Gehalt, vor allem aber die For m. Sie ist im vorliegenden Fall das Bemerkenswerteste.

DIE HANDLUNG — trotz der verdeutlichenden Einblendungen aus dem ersten Teil einfach, linear — ist in weiten Partien mehrschichtig angelegt: da gibt es dann die Aktion und zugleich (mehrfach als Spiel im Spiel und andere symbolische Darstellungen) ihre Interpretation, ihre Vertiefung oder Ausweitung ins allgemeine. Mitunter geschieht das kontrapunktisch, das heißt, das äußere Ereignis steht im Widerspruch zu dem, was Eisenstein den „inneren Monolog” nennt. Hierbei ergeben sich erregende Spannungen seelisch-geistiger Art, hervorragend gemeistert von den Akteuren, insbesondere dem bewährten Nikolaj Tscherkassow, der die Titelrolle spielt.

Jede Szene, ist wohlüberlegt, bis ins letzte durchgefeilt. Vom umgebenden Raum her, vom Dekor bis zum kleinsten Requisit, zum Faltenwurf der Kostüme usw., wurde alles sehr sorgfältig behandelt. Eisenstein, dessen Regieinteressen nie sonderlich der Schauspielerführung galten (er ließ die Darsteller „sich selber sein”, aus sich heraus wirken), zeigte sich hier merklich bemüht, wandte beispielsweise Ausdrucksformen des japanischen No-Theaters an, bildete die Haltung der Hände Greco nach usw.

IMMER MEHR BEEINDRUCKEN großartige Aufnahmen — so etwa diejenige, in der das Volk mit Fahnen und Ikonen auf serpentinenartigem Weg durch die winterliche Landschaft zieht (der berühmte Eduard Tissė hatte die noch aus dem ersten Teil stammenden Exterieurs, Andrej Moskwin die Interieurs gedreht). Jedes Bild ist eine ausgewogene, auf malerische Wirkung bedachte Komposition in Schwarzweiß. Die Kamera bewegt sich nicht oft; der Schnitt hat sich beruhigt — es wird montiert, aber nicht mehr ungestüm, wirbelnd, hämmernd, wie etwa in „Panzerkreuzer Potemkin”. Insgesamt zeichnet die Optik sich durch eine ungewöhnliche Statik aus, nimmt sie die Form der großen Ikonen an, die als Repräsentanz des Göttlichen so oft begegnen — ist sie eine Art filmische Ikonographie.

Der Ton ist vielschichtig gegliedert. Allein das, was kinematographisch unter „Dialog” verstanden wird, vollzieht sich in mehreren Ebenen: da ertönen, Stimmen (meist betender Mönche), die, dem antiken Chor vergleichbar, etwas kommentieren, eine Situation charakterisieren, sie symbolisch vertiefen; da sind gleichzeitig Reflexionen (etwa solche religiöser oder moralisierender Art von Iwan) und, damit verwoben, Bemerkungen aktuell-sachlicher Natur (beispielsweise von Untergebenen geäußert). Also selbst das Wort wirkt aus verschiedenen Dimensionen.

DIESER FILM MACHTE — nicht nur im östlichen Raum — viele ratlos und unsicher. Es erhoben und erheben sich noch zahlreiche Fragen. Was wollte Eisenstein eigentlich? Stellt sein Werk eine Verurteilung der Diktatur oder eine Apologie des Stalinschen Regimes (beides wurde herausgelesen) dar? Oder gestalterisch: Warum sind die Figuren so statuarisch, ihre Gesichter, maskenhaft starr? Was sollen die abgezirkelten Gesten, die stilisierten Bewegungen? Was überhaupt die ganze tänzerisch-pantomomische Inszenierung? Ist das nicht irgendwie Oper? Und wozu der Symbolismus? War — ist Eisenstein nicht der große Realist, voller Dynamik und Vitalität? Jetzt aber bleibt alles im Bereich der Formen, ist es Vertiefung, Ueberhöhung, gelassen, besinnlich, vielleicht sogar etwas morbide …

Was soll da geantwortet werden? Möglicherweise liegt im Künstler selbst die Erklärung. Dieser Regisseur, bekannt, berühmt, weltberühmt geworden als filmischer Ideologe, als Agitator mit der Kamera, nur noch von Themen beherrscht, nicht von Sujets, der Masse, dem Kollektiv, nicht dem einzelnen, dem Individuum zugewandt — dieser Filmgestalter von höchstem Rang hat endlich den Menschen entdeckt und mit ihm das Menschliche in allen seinen Gegebenheiten und Möglichkeiten, seinen Höhen und Tiefen und seiner das Irdische, das Erfahrbare, das Wirkliche zu anderen Wirklichkeiten überschreitenden Traftszendenz. Und da hat er denn auch mit vom Reifsten geschaffen, was die Kinematographie seit ihrem Bestehen hervorgebracht hat.

Angesichts. einer solchen Leistung aber sollte man nicht fragen. Die Kunst verträgt das nicht. Und „Iwan der Schreckliche” ist Kunst, hohe, ganz hohe Filmkunst.

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