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Ein Freund der armen Leute

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Rom, im Juli

Zu den am besten verbürgten Anekdoten um Italiens neuen Ministerpräsidenten Antonio Segni gehört diese: Als Segni einmal durch das Bergland Sardiniens fuhr, wurde sein Wagen von Banditen angehalten. Als sie ihn erkannten, zogen sie die Mützen und einer sagte: „Verzeihung, Exzellenz, wir wußten nicht, daß ein Freund im Wagen war.“ .

Das Geschichtchen sagt etwas über den Mann Segni aus: Freund der armen Leute. Denn es muß vorausgeschickt werden, daß sich kein sardinischer Bandit für einen solchen halten würde. Sie sind „poveracci“, so arm, daß ihnen keine andere Möglichkeit bleibt, das Leben zu fristen. Politisch interpretiert, würde die Anekdote dieses meinen: der „Linkskurs“ und der reformatorische Geist, die den Ministerpräsidenten kennzeichnen, kommen allein von der sonst unter Politikern nicht so sehr verbreiteten Fähigkeit her, mit den Nöten der armen Leute zu fühlen. Wenn sich Selbstlosigkeit und Konsequenz dazu gesellen, ist der Reformator geboren.

Segni ist der erste Ministerpräsident, den Sardinien Italien gegeben hat. Seine Familie ist allerdings weit zurückliegenden Ursprungs. Vor genau 217 Jahren übersiedelte ein Genueser Advokat und Patrizier Segni mit hundert Gefolgsleuten nach der dicht an Sardiniens Küste gelegenen Insel Carloforte. Von seinen Vätern und von der Familie der Gattin, die den guten sardischen Namen Carta trägt, hat Antonio Segni beträchtlichen Grundbesitz geerbt, Felder, Aecker, Weingärten und Olivenhaine, alles im Laufe der Generationen mit viel Schweiß und Arbeit und Mühe zusammengebrachtes Gut. Seine Liebe teilt Segni in gleichen Teilen zwischen der Landwirtschaft, der Universität und der Familie.

Frau Laura Carta erinnert sich noch genau an jenen Tag im Jahre 1950, als ihr Gatte selten guter Laune nach Hause kam und fröhlich ausrief: „Laura, wir haben 115 Hektar Land verloren I“ Es war der Tag, an dem das Gesetz über die Landreform, das Segnis Namen trägt, Wirklichkeit wurde. Für dieses Gesetz hatte er hartnäckig und störrisch gekämpft, obwohl er wußte, daß er sein erstes Opfer werden würde, und, was mehr zählt, daß er seiner Familie und vielen Freunden in Sassari ein Opfer auferlegte. Man hat erfahren, daß in jener entscheidenden Ministerratssitzung ein Sturm im Wasserglas stattgefunden hatte. Segni, durch die ewigen Einwände einiger Kollegen verärgert, hatte ein Wasserglas so heftig auf den Tisch gesetzt, daß es zerbrach und seine Hand verletzte, was ihn jedoch nicht daran hinderte, mit gleichem Feuer in der Debatte fortzufahren. Ein unvoreingenommener Zeuge, der kommunistische Exminister Fausto Gullo, in den Jahren 1945/46 an der Spitze des Ministeriums für Landwirtschaft, hat -noch in diesen Tagen daran erinnert, daß Segni, damals seine rechte Hand, niemals gegen Maßnahmen gesprochen hatte, die darauf hinzielten, die Lage der Bevölkerung auf dem Lande zu verbessern.

Antonio Segni gehört zu den auch in Italien nicht so häufigen Fällen, daß Minister gründliche fachliche Vorbereitung für ihr Amt mitbringen. Als Landwirt mit Leib und Seele war er im Landwirtschaftsministerium am rechten Platz, und als er dann in das Unterrichtsministerium übersiedelte, verfügte er auch hier über reiche persönliche Erfahrung. Denn seine zweite Liebe gehört der Universität. Er ist Spezialist für Zivil- und Handelsrecht, und sein Hauptwerk galt, wie in den Krisentagen nicht versäumt wurde ironisch zu bemerken, dem Konkurs und Bankrott. Wie sein Parteifreund Amintore Fanfani übt er immer noch den Lehrberuf aus. Als ihn Staatspräsident Gronchi bereits mit der Regierungsbildung beauftragt hatte und die Politiker der Reihe nach in seiner Wohnung zu den Konsultationen erschienen, mußte er sich entschuldigen, weil er einen Schüler zum Colloquium bestellt hatte.

Unter den Journalisten, die in Italien mit den Ministern und dem Regierungschef in so freier

Weise sprechen wie sonst nur noch in Amerika, ist Antonio Segni wegen seiner Reserviertheit und Wortkargheit bekannt. Während der Krise hatten sich die Korrespondenten in einem der Räume versammelt, die zum Arbeitszimmer des Staatspräsidenten im Quirinalpalast führen. Sie warteten auf Segni, der Gronchi Bericht erstatten sollte. Da erfuhren sie, daß der designierte Ministerpräsident sich bereits durch einen Seitengang zum Staatspräsidenten begeben hatte. Und als er endlich erschien und man vergeblich aus seinem mageren Gesicht das Er-, gebnis der Mission herauszulesen suchte, machte einer der Journalisten eine spöttische Bemerkung: „Ich bitte Sie, Herr Minister, fassen Sie sich kurz...“ Worauf Segni, ohne die Miene zu verziehen, antwortete: „Keine Sorge, ich habe nichts zu sagen.“

Antonio Segni hat keinen Sinn für „public relations“, für das Aeußerliche, für die Fassade, die in Italien sonst so wichtig betrachtet werden. Er ist imstande, seine Besucher im Schlafrock oder in Pantoffeln zu empfangen. Un konventionell im Leben wie in der Arbeit, vielleicht auch, weil die Organisationsgabe nicht zu seinen stärksten Seiten gehört, lebt und arbeitet er in einer kleinen Mietwohnung in Rom, vergraben unter Bergen von Büchern, Briefen, Schriftstücken, ohne Sekretär. Erst während der Krise hat er sich einer Stenotypistin bedient und ihr im Salon, weil kein anderer Platz verfügbar war, ein Tischchen aufgestellt. Er hat es auch versäumt, in der Parteileitung der Democrazia Cristiani ein ausführliches Curriculum vitae zum Gebrauch der Journalisten zu hinterlegen. So kam es, daß die Korrespondenten, auf der Suche nach den wichtigsten Daten und Ereignissen im Leben von Italiens neuem Ministerpräsidenten, mit sehr mageren Ergebnissen abziehen mußten: „Antonio Segni, Universitätsprofessor, geboren in Sassari am 2. Februar 1891 . ..“

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