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Geduld und Mut

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Rom, Ende Juli Vor einiger Zeit hat Ministerpräsiden Segni eine Meisterleistung vollbracht, die dai prekäre Leben seines nunmehr einjährigen Ka binetts um etliche Zeit verlängern dürfte. Di Ueberraschung ist in der Oeffentlichkeit deshalb groß und freudig, weil die Mehrheit dei politischen Beobachter ihm ein so schnelles und energisches Handeln nicht zugetraut hatte.

Ein Streit war unter den vier Koalitionsparteien deswegen ausgebrochen, weil in verschiedenen Gemeinden (z. B. in Mailand, Rom und Venedig) die Wahl der Stadtoberhäupter nur dank den Stimmen der äußersten Rechten oder gar der äußersten Linken zustandegekommen wir, was ausdrücklich gegen die zentralen Abmachungen der Regierungsparteien verstieß.

Diese Einzelfälle hatten besonders die Liberalen in Harnisch gebracht: eine Regierungskrise und eine völlig verfahrene Situation schienen unvermeidlich.

Was tat Segni? — Als der erzürnte liberale Parteiführer Malagodi eine Besprechung der das

Kabinett Segni tragenden politischen Gruppen forderte, um gleichsam über die sündigen Parteien ein Strafgericht abzuhalten, da zeigte Segni in der sich während sommerlicher Glut fünf Stunden hinziehenden Sitzung zwei besondere Eigenschaften: unendliche Geduld, welche die aufgeregten Gemüter sich austoben ließ, und Mut zu schnellem Handeln. So rettete er im letzten Augenblick die Situation.

Nachdem er nämlich die bitteren Klagen und Gegenklagen der Vertreter der Regierungsparteien über sich hatte ergehen lassen, kam ihm der Einfall, die Belastung seines Kabinetts mit den parteipolitischen Angelegenheiten der aus den Mai-Wahlen hervorgegangenen Gemeinderäte abzulehnen und von allen Parteien soviel Vertrauen und soviel Loyalität zu fordern, daß ihm die Durchführung des Regierungsprogramms nicht unmöglich gemacht werde. „Lieber die kommunalen Angelegenheiten haben die Parteien zu entscheiden, nicht wir, die Regierung. Ich stelle euch vor die Wahl: Entweder ihr arbeitet wie bisher treu an der Durchführung unserer großen unaufschiebbaren Aufgaben oder ich gehe. Ich brauche eure sofortige eindeutige Entscheidung. Mein Entschluß ist unbeugsam.“

Die einhellige Antwort der Parteienvertreter: Ihr habt recht. Wir lenken ein. Die klare Führung des Landes ist wichtiger als die Angelegenheiten der Gemeinden.

Segni hatte gesiegt. Mit seiner Rücktritts-drohung hatte er sein Kabinett gerettet und, kurz vor den ausgedehnten Sommerferien des Parlaments eine schwer zu überwindende Krise vermieden.

So hat sich der Oeffentlichkeit ein anderer Segni vorgestellt. Zumindest — so schrieben die ihn zumeist als „freundlichen, stets nachgiebigen alten Herrn“ verschleißenden Zeitungen —, ein Segni, der nicht seinem Ministersessel verhaftet ist.

Aber hier ist mehr zu sagen. Die zumeist falsche Einschätzung des gegenwärtigen Ministerpräsidenten dauert nunmehr ein Jahr an, das heißt seit einem Amtsantritt. Sein verbindliches Wesen, seine elastische Verhandlungsführung, seine scheinbare Neigung zum Kompromiß, seine signorile Formlosigkeit gegenüber Höher- und Tieferstehenden gaben zumal seinen politischen Gegnern links und rechts, aber auch in der eigenen Partei willkommenen Anlaß, sein politisches Wollen und Können herabzusetzen und auch ihn — wie seinen Vorgänger Scelba — des zur abgedroschenen Phrase herabgewürdigten „Immobilismus“ zu zeihen. Das Kabinett Segni habe, so hieß es zumal bei den extremen Parteien, nichts Ernstliches zustandegebracht. Oft genug habe es die Stimmenhilfe der äußersten Linken gebraucht, um bedeutende Gesetzentwürfe durchzubringen. Außenpolitisch habe es sich in einer Zeit zunehmender Entspannung rettungslos der Paktpolitik des Westens verschrieben und die sich bietende Gelegenheit der Koexistenz verpaßt.

Solche Vorwürfe richten sich von selbst. Denn gerade die parlamentarischen Erfolge der demokratischen Mitte sind bemerkenswert. Sie werden gleichsam gekrönt durch das unerwartete Abstimmungsergebnis der Erdölgesetzgebung, das vor wenigen Tagen in der Kammer mit 386 gegen 37 Stimmen den Regierungsentwurf billigte. Dieser Erfolg einer seit Jahren umstrittenen und viel befehdeten Gesetzesvorlage hat das Kabinett Segni auf parlamentarischem Boden ungemein gestärkt.

Vor ziemlich genau einem Jahr, als der Vorgänger Segnis, Mario Scelba, der — christlicher Demokrat wie jener — über dem gleichen Regicrungsprogramm stürzte, das heute von Segni in die Tat umgesetzt wird, begann ein großes Rätselraten, weshalb Segni, so hieß es, Scelba verdrängt habe. Heute ist dies kein Rätsel mehr: Der „freundliche alte Herr“, der liebenswürdige Landedelmann aus Sardinien, hat — ohne ein

Staatsmann zu sein — mit dem von ihm selbst betonten „Ehrgeiz zur Sache“ und mit seinem verbindlichen, die schwierigen menschlichen Widerstände überbrückenden Wesen, viele damals unlösbar dünkende Aufgaben gelöst oder der Lösung nähergebracht.

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