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Marktplatz der Sensationen

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Als das Kind in den Brunnen gefallen war, starrten bangend und mitleidend Millionen Italiener Tag und Nacht auf den Fernsehschirm wie auf ein unheimliches Menetekel.

Die Tragödie des kleinen Alfredo und derer, die ihn ebenso mutig wie dilettantisch zu retten versuchten, hat im Unterbewußtsein des Landes fast sym- ,boiträchtig all die Angst und Ohnmacht widergespiegelt, die Italien in den dunklen, verschlammten Schächten seiner Krisen und Skandale bedrängen. Hilft etwa auch da kein Hoffnungsstrahl aus Notaggregaten, kein beherztes Zupacken mehr?

In diesen Tagen versucht es ein neuer Mann. Zum erstenmal nach drei Jahrzehnten könnte es geschehen, daß in Rom ein Politiker regieren wird, der - im Ausland kaum bekannt - bislang weder Geschichte noch Geschichten machte (allenfalls darüber schrieb); keiner jener Christdemokraten, deren ‘ewige Wiederkehr demokratischer Stabilität zum Verwechseln ähnlich sieht; aber auch nicht ein Oppositionsführer, der - wie der Kommunist Berlinguer - den „Machtwechsel" als solchen schon für eine moralische Heilkur hält.

Giovanni Spadolini, der 56jährige Florentiner, Historiker und Journalist, ist körperlich wie geistig zwar von kräftiger Statur; in die Waagschale der Macht kann er freilich nur ein Fliegen

gewicht legen: ganze drei Prozent der Wähler des Landes stehen hinter seiner Republikanischen Partei.

Doch die Führungschance, die Stärke seiner allseits respektierten Schar von Linksliberalen liegt in der Schwäche der großen Parteien.

„Wenn sich in diesem Lande eines Tages ein dritter Pol bilden sollte, dann werden wir und niemand anders den Schwerpunkt bilden“, so konnte Spadolini erst unlängst dem Kongreß seiner Partei sehr selbstbewußt zurufen.

Wird er aber die anderen für ein neues Gleichgewicht, die Basis jedes wirksamen Regierens, gewinnen können? Also das Wohlwollen der abwartenden Kommunisten, die eigentlich lieber mitregieren möchten? Die ehrliche Mitarbeit der Sozialisten, die sich selber als „dritten Pol“ betrachten? Und vor allem die Hilfe der Democra- zia Cristiana, die als Partei der relativen Mehrheit mit bitterer und nicht etwa asketischer Miene das Steuer aus der Hand gibt?

„Wir stehen vor der Krise, nicht einer Krise“, so bekannte der christdemokratische Parteichef Flaminio Pic- coli. Als ob ihm erst jetzt bewußt geworden wäre, daß er einem Nicht- Christdemokraten Hilfe bei der Regierungsbildung Zusagen und vor dem Parteivolk das Scheitern Arnaldo Forlanis rechtfertigen muß.

Lustlos schon, bevor er zum zweitenmal resignierte, hatte es Forlani letzte Woche aufgegeben, eine Koalition zusammenzuflicken, mit der er gleichsam im Zeitlupentempo und sehenden Auges das Staatsschiff auf morastigen Grund gesteuert hatte: immer hilfloser gegenüber einer Inflation, die - vom Dollardruck noch beschleunigt - weiter über der 20-Prozent-Marke galoppiert; machtlos gegen die wachsenden, zumal jeden öffentlichen Verkehr lähmenden Streikwellen, aber auch gegen die Terroristen, die gegenwärtig mit vier Op-, fern (die sie hintereinander entführen konnten) das Land zu erpressen versuchen.

Schließlich war Forlani der schlimmsten, weil undurchsichtigen Bedrohung,

der sogenannten P-2-Affäre, erlegen, auch weil er von ihr schon Mitte März mehr gewußt hatte, als er glauben

wollte.

Damals nämlich hatte eine überraschende Hausdurchsuchung in der toskanischen Villa des Kleider- und Matratzenfabrikanten Ličio Gelli jene Listen von nahezu tausend Geheimlogen- Brüdern, aber auch andere noch brisantere Papiere ans Licht und dann auf den Schreibtisch des Regierungschefs gebracht. Verschanzt hinter dem Untersuchungsgeheimnis, von dem er sich durchaus hätte dispensieren lassen können, ließ sie Forlani zwei Monate liegen. Etwa nur deshalb, weil - wie er noch am 29. April abwehrte - eine „neue Hexenjagd“ zu befürchten war?

Aus bloßer Vorsicht gegenüber den Dossiers eines intriganten Hochstaplers, Erpressers und Geschäftemachers, die jetzt einer eifrigen Enthüllungspublizistik in der Tat mehr zur Verwirrung als zur Klärung dienen? Oder aus Rücksicht auf seine ungläubigen, aber auch nicht abergläubischen linken Koalitionspartner, die mit Freimaurerei als solcher keinerlei Satanskulte, auch keine politischen, verknüpfen?

Alle bisher bekannten Umstände und Fakten lassen den Schluß zu, daß sich Gelli bei den Freimaurern nur ein-

, genistet hatte, weil ihm deren geheimnisvolle, harmlose Bräuche, aber auch ihre traditionelle Bedeutung im italienischen Establishment als bequeme Tarnung dienten.

Niemals ist sich Gellis „Bruderschaft“ begegnet; sie existierte ohne die üblichen Riten, im Grunde nur in den Zettelkästen des großen Meisters. Und diese verstand er allmählich mit Geheimpapieren von höchster Brisanz zu füllen, indem er neue „Brüder" unter Berufung auf prominente Namen von wirklichen oder vorgegebenen hinzugewann, dabei jeden gegen jeden ausspielte und sich am Ende brüsten konnte, alle in der Hand zu haben: vom Minister bis zum Generalstabschef, vom Bankdirektor bis zum Schlagerstar, vom Chefredakteur bis zum Parteisekretär.

Nicht von ungefähr ließ Gelli neue Mitglieder schriftlich die Frage beantworten, ob und wie ihnen im Laufe ihrer Karriere ein Unrecht geschehen sei. Und kein Zufall ist, daß der Anfang aller Fäden, die er spann, zum Geheimdienst zu führen scheint, dem sich der Ex-Faschist Gelli Anfang der fünfziger Jahre mit einer Namensliste italieni

scher Agenten der deutschen Gestapo empfahl…

Drei Haftbefehle, wegen Geheimbündelei, politischer Spionage, Besitzes von Geheimdokumenten, liegen heute gegen Gelli vor, der sich natürlich abgesetzt hat, vermutlich nach Montevideo in die Villa seines Freundes Ortulani, die mehr diplomatische Immunität genießt als die italienische Besitzung Gellis (der nebenberuflich auch Handelsrat an der argentinischen Botschaft in Rom war).

Ortulani ist nämlich Botschafter des souveränen Malteserordens in Uruguay. Nicht in dieser frommen Funktion freilich, sondern als Reisender in mancherlei Geschäften hat Ortulani Gellis Start in die große Welt der gesalzenen Indiskretionen und Provisionen begünstigt.

„Meine Erfahrung mit menschlicher Psyche sagt mir, daß es für gewisse Schichten der Menschheit ein Naturgesetz ist, den Stärkeren zu helfen und die

Schwachen zu schlagen“, schrieb Gelli einem amerikanischen Freund aus der Umgebung Reagans (der ihm eine Einladung zur Inaugurationsparty des Präsidenten verschaffte).

Gemeint war das nicht nur kritisch; es könnte einen Schlüssel zur ganzen Gelli-Affäre bieten, wenn auch keinen kriminalistischen.

Dieser wird jetzt aufSpuren gesucht, die zu nahezu allen italienischen Skandalen und Untaten de^ letzten Jahre zu führen scheinen, nach Südamerika und Afrika, in westliche und östliche Richtung - Spuren, auf denen es nach Geld, öl und Pulver, aber auch nach Blut riecht.

Heißt all das aber, einen Gelli und seine P 2 maßlos zu mystifizieren? Wenn es so wäre, wie ließen sich dann die panikartigen Folgen erklären, nicht nur die Regierungskrise, die ja früher

oder später ausgebrochen wäre, auch etwa die Auswirkungen bei den Streit- ‘ kräften, die sonst von Zivilisten nicht leicht zu verunsichern sind?

Sechs Heeresgeneräle, fünf Luftwaffengeneräle und vier Admiräle mußten sich verabschieden. Da gab es den Selbstmord eines Obersten der Finanzpolizei, den Selbstmordversuch eines Ex-Ministers.

Alles nur Folgen von Hysterie?

Auch wenn nur ein Bruchteil der Indizien, die da auf dem Marktplatz der Sensationen liegen, seriös wäre, könnte das ausreichen, eine Demokratie schwer zu vergiften, zumal eine schwierige wie die italienische, deren Schwächen immer schon manche ihrer Staatsdiener nach starken „Patenvettern“ Ausschau halten ließen.

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