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Ganz tief in die Seele

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Zur Weihnachtszeit häufen sich hierzulande Konzerte, die unter dem Namen „Gospel” firmieren. „Gospel” bedeutet „Frohbotschaft” oder „Evangelium”, und es handelt sich dabei um das religiöse Liedgut der schwarzen Bevölkerung Nordamerikas. „Echter Gospel geht ganz tief in die Seele hinein”, schwärmt Friedrich Mühlöcker, österreichischer Experte für jene Musik. „Man bekommt Gänsehaut, so ergreifend sind diese Lieder”, schaudert Mühlöcker, der den Spitznamen Gos-pel-Fritz trägt. Lohnt es sich also, die zahlreichen Konzerte von Chören oder Gospelsängern zu besuchen, die zur Zeit in Osterreich gastieren?

Der Gospel geht auf die Spirituals zurück: Diese Lieder religiösen Inhalts waren in den Südstaaten der USA entstanden, wo seit 1619 - dem Jahr, als das erste Sklavenschiff in Nordamerika anlegte - aus Afrika verschleppte Schwarze zur Arbeit gezwungen wurden. Die Afroamerikaner vermischten ihre work songs -jene Lieder, die sie sangen, während sie schufteten - mit weißer, protestantischer Kirchenmusik; denn im 17. Jahrhundert besuchten Herren und Sklaven noch gemeinsam die allsonntäglichen Gottesdienste. Wie stark der weiße Einfluß auf diese schwarze Musik war, ist unter Experten allerdings umstritten.

Später waren die Schwarzen auch in der Kirche unter sich, und entwickelten ihr eigenes religiöses Liedgut: Einstimmige Melodieu wurden von Vorsängern vorgetragen und der Refrain vom Chor - nach einer Ruf-Antwort-Form -- wiederholt. Der Vortrag wurde von Zwischenrufen, Fußstampfen und Händeklatschen begleitet. Die Texte der Spirituals sind zwar zum größten Teil dem Alten Testament entnommen, beziehen sich jedoch auf die politische und soziale Situation der Schwarzen: Die Erwähnung des unterjochten Volk Israel galt als Metapher für die Unterdrückung der Schwarzen, das „gelobte Land” der Ribel als Codewort für den Norden der USA, wo es keine Sklaverei gab. „Nowbody Knows the Troubles I've seen” (Niemand kennt die Plagen, die ich durchgemacht habe) ist eines der bekanntesten Spirituals.

Nach der Abschaffung der Sklaverei in den Vereinigten Staaten (1867) verloren die Spirituals ihre Funktion als Ventil und erfuhren eine Professiona-lisierung. Gesangsgruppen zogen durch die Staaten und gaben Spirituals zum besten, jedoch waren diese fröhlicher als die wehmütigen, klagenden Lieder aus der Zeit der Sklaverei. Der Gesang wurde mehrstimmig, die Harmoniestruktur dichter und die Arrangements kunstvoller. Manchmal kam auch Klavierbegleitung hinzu. „Jubelee” wird diese Art der schwarzen Musik genannt.

Unter dem Einfluß des Jazz entwickelte sich in den zwanziger Jahren aus dem Jubelee der Gospel: Die im Jazz üblichen Intonationstrübungen (dirty notes) und Harmonien (blue no-tes) veränderten die religiöse Musik der Afroamerikaner. Als „Vater des Gospel” gilt Thomas A. Dorsey: Als Mitte der dreißiger Jahre während der Geburt seine Frau und sein Kind ums Leben kamen, schrieb der Musiker in seiner Verzweiflung den Song „Precious Lord” (Edler Herr), mit dem der Gospel seinen Siegeszug in der schwarzen Bevölkerung Nordamerikas antrat. Den nachweislich ersten Gospel-Song allerdings habe Be-bert H. Harris verfaßt, wie Friedrich Mühlöcker berichtet.. Der typische Gospel-Song „I want Jesus around my bedside” (Ich brauche Jesus an meinem Krankenbett) sei 1928 urheberrechtlich erfaßt worden.

Die glanzvollste Epoche des Gos-pels fällt in die Zeit von 1945 bis 1960. „In den Kirchen war damals der Teufel los”, vergleicht Gospel Fritz: „Die verschiedenen Ensembles wetteiferten damals darum, bei wessen Vorstellung mehr Besucher vor Begeisterung in Ohnmacht fielen.” Es habe vereinzelt sogar Tote gegeben, erzählt Mühlöcker, wenn sich in Ekstase geratene Gottesdienstbesucher vom Bal-— kon jgj. j(irche stürzten. Als höchste Form gilt unter den Experten der Quartett-Stil: Baß, Bariton, Tenor sind dabei mit mindestens einer Stimme vertreten, hinzu kommt ein Lead-Sänger, der die Texte vorsingt. Bekannte Vertreter dieser Richtung sind die „Soul Stirrers”, die Gruppe von Rebert H. Harris, und die

„Dixie Humming-birds”. Unter den Solointerpreten sind wohl Mahalia Jackson und Sam Cooke die bekanntesten. Cooke, von Harris ausgebildet, wechselte später in den kommerziellen Rereich und gilt mit seinen zahlreichen Hits als einer der ersten Soul-Interpreten, der schwarzen Popmusik der sechziger und frühen siebziger Jahre.

Glaubt man dem österreichischen Experten, ging es seit 1960 mit dem Gospel bergab. „Durch die Kommerzialisierung wurde die Gospelmusik oberflächlich, verwässert und verflacht”, klagt Mühlöcker. Der Einsatz von Musikinstrumenten nahm überhand; vor allem die Baßstimme mußte immer öfter einer Baßgitarre weichen. Auch änderte sich der Geschmack der jungen Schwarzen: Die „Sklavenmusik” war out, Soul war angesagt. Daß Soul direkt aus dem

Gospel hervorgegangen ist, änderte nichts daran.

Zeitgenössische Gospelmusk ist mit Vorsicht zu genießen: „Die alten Interpreten sind die besten. Was heute geboten wird, ist kaum noch authentisch”, sagt Mühlöcker. Nur wenige, etwa Queen Esther Marrow oder die Jackson Singers, hätten „noch eine Ahnung des Echten”, während zum Beispiel die künstlerische Qualität von Chören generell zu wünschen übrig ließe. „Drittklassige Gruppen füllen die Säle, nur weil vielleicht das Wort ,Harlem' in ihrem Namen vorkommt”, schimpft Gospel-Fritz. Hingegen wurde im Dezember der geplante Wiener Auftritt der „Blind Boys Of Alabama” abgesagt, die Mühlöcker zu den besten zeitgenössischen Ensembles zählt. Im Vorverkauf waren gerade drei Dutzend Karten verkauft worden.

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