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Systematische „Germanisierung“?

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Die Separatisten begründen indessen ihre Forderung nach Lostrennung vom Kanton Bern auch mit handgreiflichen Vorwürfen an die Adresse der Alt-Berner. Sie beklagen sich zum Beispiel darüber, daß ihr Landesteil von Bern wirtschaftlich vernachlässigt werde, und daß die Jurassier, hätten sie einen eigenen Kanton, weniger hohe Steuern zahlen müßten. Demgegenüber hat die Berner Regierung nachgewiesen, daß der Kanton mehr Mittel in den Jura pumpt, als er von dort an Steuern und Abgaben erhält. Zudem wäre ein Kanton Jura nach Auffassung von namhaften Wirtschaftsfachleuten von vornherein dazu verurteilt, in die Reihe der finanzschwächsten Kantone eingereiht zu werden, da er wirtschaftlich kein großes Potential hat (Hauptindustrie ist die Uhrenindustrie, die sich aber auf einzelne Täler beschränkt.)

Schwerer wiegt der Vorwurf der Separatisten, der Kanton Bern betreibe im Jura eine systematische Germanisie-rungspolitik. Tatsache ist, daß die Zuwanderung aus dem deutschsprachigen Kanton in den letzten Jahrzehnten etwas zugenommen hat, aber die Verdächtigung, daß dahinter eine systematische Regierungspolitjk stecke, ist zweifellos falsch. Gesämthaft gesehen, ist in* den sechs französjechsprachigen Bezirken des Jura der prozentuale Anteil des Deutschsprechenden heute um ein Fünftel niedriger als um die Jahrhundertwende!

Unrichtig ist — heute — der separatistische Vorwurf der Majorisierung. Er war allerdings früher einmal berechtigt. Seitdem jedoch die bernische Verfassung im Sinne eines Entgegenkommens an die Revendications des Jura revidiert wurde, ist dieser im Vergleich zum Bevölkerungsanteil eher bevorzugt — nach der schweizerischen Maxime, die beste Minderheitspolitik bestehe darin, einer Minderheit mehr

zu geben, als ihr, rechnerisch betrachtet, zustände. Nur ist es natürlich mit der Zusicherung von Ämtern und Posten und dem Bau von Straßen und anderen öffentlichen Werken noch nicht getan. Die Malaise sitzt zu tief, als daß es mit materiellem Entgegenkommen allein zu beseitigen wäre ...

Die Achillesferse

Mit einer Malaise aber kann man noch kein Staatswesen bauen, zumal dann nicht, wenn die Einheit, die beschworen wird, lediglich in dieser Malaise besteht und auch diese bei weitem nicht von allen als solches empfunden wird, die „befreit“ werden sollen. Die Jura-Frage im Sinne der Separation von Bern wird nämlich nicht einmal von der Mehrheit der Jurassier selber als dringlich erachtet. 1959 hatten die Stimmbürger des Kantons Bern über eine von den Separatisten lancierte Volksinitiative abzustimmen, die verlangte, daß eine Volksabstimmung unter den Stimmbürgern des Juras über die Frage der Loslösung von Bern veranstaltet werden solle. Im Urnengang vom 5. Juli 1959 lehnte nicht nur die Mehrheit der Alt-Berner, sondern auch die Mehrheit der Jurassier eine solche Volksbefragung deutlich ab! Damit waren die Separatisten in eklatanter Weise von der Mehrheit der Jurassier selber desavouiert worden. Allgemein betrachtet man diesen Schlag im Schweizerland als den Anfang vom Ende des Separatismus, dessen Schicksal vollends besiegelt zu sein schien, als sich am 27. Mai 1962 an die erwähnte Abstimmungsniederlage eine zweite, nicht minder klare, anschloß. Damit war offenbar geworden, daß die Separatisten keine Chance haben, auf legalem Weg zum Ziel zu kommen. Statt sich nun darauf zu konzentrieren, im Rahmen der bestehenden gesetzlichen Möglichkeiten ein Optimum für

ihren Landesteil herauszuholen und die in den fünfziger Jahren erreichte Teilautonomie des Jura auszubauen, begannen ihre Führer mit dem Gedanken an Gewalttätigkeiten zu liebäugeln. Wohin dies führt, ist dem Leser in der Einleitung dieses Berichtes dargelegt worden.

Wenn die Minderheit Mehrheit würde...

Man kann die Niederlage der Separatisten an den Urnen nur verstehen, wenn man die jurassischen Ergebnisse nach Bezirken aufschlüsselt. Es zeigt sich dann, daß zwar die nördlichen Bezirke wohl mehrheitlich separatistisch gesinnt sind, daß die südjurassischen jedoch ebenso entschieden gegen die Separation eintreten — mit anderen Worten: Daß der Jura gar keinen einheitlichen politischen Willen hat. Hier wird die Achillesferse des Separatismus sichtbar, nämlich: Daß das Minderheitsproblem gar nicht lösbar ist, weil die Beseitigung des bestehenden Minderheitskomplexes mit neuen, noch schwierigeren Minderheitsproblemen erkauft werden müßte, die den geforderten 23. Kanton aufs schwerste belasten würden. Die südlichen, nach Bern orientierten Bezirke und das deutschsprachige, eher nach Basel ausgerichtete Laufenthal würden in diesem Kanton Fremdkörper bilden und lehnen ihn mehrheitlich ab.

Die Befürchtungen, daß die Separatisten, kämen sie in einem eigenen Kanton an den Hebel der Macht, mit der deutschsprachigen Minderheit nicht zimperlich umspringen dürften, werden durch handgreifliche Hinweise gestützt. Dafür ein Beispiel: In einzelnen Tälern der Jura leben in geschlossenen Siedlungen deutschsprachige Wiedertäuferfamilien, die seinerzeit von der Berner Regierung ausgewiesen worden waren und vom Basler Bischof dort Asyl gewährt erhielten. Sie besitzen heute noch eigene deutsche Schulen. Schon 1947 hat der jurassische Lehrerverein eine Resolution gefaßt, die verlangt, daß alle noch bestehenden deutschsprachigen Schulen in französische umgewandelt werden müssen. Diese Schulen und andere Äußerungen deutschschweizerischer Eigenart bedrohen eben die Auffassung der Ultras „durch ihr bloßes Dasein“ die französische Kultur, wie es in der zitierten Resolution heißt.

Unter den gegebenen Verhältnissen muß man sich fragen, ob nicht die jurassischen Separatisten, die heute allzu leicht zum Verneinen und zur Destruktion neigen, besser daran täten, ihre Energien auf eine konstruktive und realisierbare Lösung zu verlegen: Auf die Integration des Juras in den Kanton Bern. Statt dessen verbrennen sie alle Brücken hinter sich. Einen schlechteren Dienst könnten sie sich selber, ihrem Jura und der „Helvetia mediatrix“ nicht leisten.

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