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Die Schweiz wird demokratisch

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Wieder einmal hat die Schweiz Mühe, ihr Prädikat als „Musterdemokratie“ unter Beweis zu stellen. Diesmal geht es aber nicht um den Vorwurf, der Hälfte des Volkes, nämlich den Frauen, das Stimmrecht zu verweigern, und auch nicht darum, in der Verfassung menschenrechtswidrige religiöse Ausnahmeartikel zu dulden. Diesmal geht es um die Demokratie an sich, nämlich um die Frage, wie bei demokratischen Mehrheitsbeschlüssen die unterlegene Minderheit geschützt werden soll. Exemplifiziert sollte dieses Problem im Berner Jura werden, wo sich ein Teil — nämlich der katholische und ärmere Nord-Jura — mehrheitlich vom Kanton Bern trennen möchte, wo der protestantische und reichere Süd-Jura zwar grundsätzlich unter der Hoheit Bern bleiben, vielleicht aber ein etwas freieres Statut erhalten möchte, und wo der übrige Kantonteil selbstverständlich den Juras-siern den Austritt aus dem Kanton verwehren möchte. Nach dem Schema „F“ der Demokratie ist die Lage Mar: die Mehrheit ist für die Einheit des Kantons Bern, also wird diese nicht angetastet! Nun ist das aber nur der eine Aspekt, und es gilt, mindestens noch zwei andere zu berücksichtigen:

• Erstens gehört es zur Regierungsklugheit in der Demokratie, der unterlegenen Minderheit soviel Entgegenkommen zu zeigen, wie dies überhaupt möglich ist,

• und zweitens geht es hier um ein

Gebiet, das durch das Diktat der Großmächte zum Kanton Bern geschlagen wurde und in dem das Selbstbestimmungsrecht der Völker mißachtet wurde.

Tatsächlich gehörte der heutige Berner Jura bis zum Jahre 1815 zum Bistum Basel. Der Wiener Kongreß schlug ihn zum Kanton Bern, um diesen dafür zu entschädigen, daß ihm ein Gebiet im heutigen Kanton Aargau und das, was großteiis den Kanton Waadt ausmacht, entzogen wurde. Im Laufe der Jahre entwik-kelte sich dann immer massiver eine „Los-von-Bern“-Bewegung, die allerdings darunter litt, daß der Jura in sich keine geschlossene Einheit darstellt, sondern konfessionell und soziologisch in zwei Teile gespalten ist.

Diese Spaltung kam auch am 5. Juli 1959 zum Ausdruck, als sich die nördlichen Amtsbezirke des Jura für ein Plebiszit über das Verhältnis des Jura zum Kanton Bern aussprachen, wogegen die Südbezirke opponierten.

Fanatische Separatisten

Rein rechtlich gesehen ist der Jura keineswegs benachteiligt: die beiden Sprachen Deutsch und Französisch gelten in der bernischen Verfassung als gleichberechtigt; alle offiziellen Verlautbarungen werden in beiden Sprachen gemacht; der Jura ist auch in den bernischen Gerichten vertreten; der Jura ist gerechterweise in der bernischen Regierung vertreten.. Gerade im letzten Punkt machen sich

allerdings Schwierigkeiten bemerkbar: selbstverständlich sind echte Jurassier Mitglied der Exekutive des gesamten Kantons Bern, aber doch nur solche, die im Gesamtkanton genehm sind — und das sind zweifellos nicht jene, die jetzt zum Beispiel den Kampf der Separatisten unterstützen.

Bern hat natürlich recht, wenn es die fanatischen Separatisten als kleine Minderheit abstempelt. Tatsache ist aber, daß durch das Verhalten dieser Minderheit eine Frage ins Bewußtsein der schweizerischen Öffentlichkeit gelangte, die allzulange unterschwellig wirkte. Noch vor wenigen Jahren hatten sich die offiziellen Berner Stellen mit Händen und Füßen gegen alles gewehrt, was auch nur im entferntesten nach „Separatismus“ aussah. Sie wollten nichts wissen von der Idee, den Kanton Bern zum Beispiel in zwei Wahlkreise aufzugliedern, so daß die Jurassier ihre Abgesandten für die Exekutive selbst und ohne übermächtiges Mitspracherecht des übrigen Kantons wählen könnten. Von einem Autonomiestatut durfte schon gar nicht geredet werden, und die Möglichkeit einer Lostrennung des Juras vom Kanton Bern in Betracht zu ziehen, glich Hochverrat. Als die Separatisten dann zu nicht immer sehr demokratischen Mitteln — zu Demonstrationen, aber auch zu Brandschatzungen und so weiter — griffen, verhärtete sich die Lage zunächst; jetzt macht sie einer offeneren Haltung Platz.

Eine neue Phase ist festzustellen, seit der Bericht der „Vier Weisen“ vorliegt. Im Juli des letzten Jahres hatte nämlich die Berner Kantonsregierung — auch das ist schon ein ungeheurer Fortschritt — eingewilligt, daß vier Persönlichkeiten das Problem sachlich prüften und einen Rapport vorlegen sollten. Die Kommission bestand aus dem früheren schweizerischen Bundesrat Prof. Dr. Max Petitpierre (Neuenburg), der einst das Außenministerium geleitet hatte; aus seinem früheren Bundesratskollegen Prof. Dr. Fritz Wahlen vBern), der ebenfalls Außenminister war; aus dem Waadtländer Nationalrat Pierre Graber, und dem Appenzeller Nationalrat Dr. Raymond Broker. Daß dabei eine „ausgeglichene“ Parteienvertretung berücksichtigt wurde, Hegt auf der Hand. Dieser Bericht, der zu Händen der Berner Kantonsregierung und des Berner Kantonal-Farlamentes ausgearbeitet wurde, analysiert objektiv den Sachverhalt. Er erteilt Rügen auf beiden Seiten, anerkennt die Bemühungen von hüben und drüben. Eine solche Gewichtsverteilung gehört nun einmal zu einem sachlichen Report, der in beiden Lagern ernst genommen werden soll. Die politische Zielrichtung des Rapportes ist aber trotz der abwägenden Formulierungen außerordentlich Mar: er visiert die Schaffung eines selbständigen Kantons Nordjura an! Wenn man bedenkt, daß gemäß der letzten Volkszählung vom Jahre

1960 in allen Amtsbezirken des Jura zusammen nur 130.000 Personen lebten, so scheint schon die Abtrennung des Juras von Bern problematisch, noch problematischer aber die Schaffung eines Kantons Nord-Jura! Der Bericht der „Vier Weisen“ stützt sich aber dabei auf die andersgeartete, historische Entwicklung und vor allem auf den Umstand, daß sich der Nordjura in einer freien Volksbefragung für die Loslösung von Bern ausgesprochen hatte.

Die „Separatisten“ des ganzen Jura sind darob zufrieden. Sie gehen davon aus, daß die Schaffung eines Kantons Nord-Jura dann auch im südlichen Jura einen völligen Stimmungswandel zur Folge haben werde, worauf sich als zweiter Schritt dann also auch ein eigener Kanton Süd-Jura ergeben würde; schließlich glauben die überzeugten Jurassier als Schlußphase an die Vereinigung dieser beiden Halbkantone, und so wäre auf unglaublichen Umwegen das verwirklicht, was sie von Anfang an wollten.

So weit ist man allerdings noch lange nicht. Die Tatsache aber, daß man jetzt in aller Offenheit darüber diskutieren darf, ohne sofort diskreditiert oder fälschlicherweise zu einem Heroen erhoben zu werden, ist ein gewaltiger Fortschritt. Alles deutet darauf hin, daß auch in diesem Punkt in der „Musterdemokratie Schweiz“ allmählich eine echt demokratische Gesinnung einziehen werde.

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