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Schweizer Ulster

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Die französischsprechenden, katholischen Jurassier im von den protestantischen Deutschschweizern „beherrschten“ Kanton Bern sind die enfants terribles der Mutter Hel-vetia, seit der Geburt des modernen jurassischen Separatismus am 9. September 1974. Damals wurde Möckli, ein Jurassier, in den Regierungsrat gewählt, ihm jedoch die Übernahme des Amtsgeschäftes eines Departements vom Berner Großen Rat verweigert, weil er nicht Deutsch konnte.

Die Wurzel der Unzufriedenheit der Welschschweizer (auch „Ro-mands“ oder „Welschen“ genannt) liegt tiefer, sie ist historisch bedingt, denn dieses Volk hat von 999 bis 1792 einem selbständigen Fürstbistum gehört. Napoleon machte den Jura zum Teil, des großfranzösischen Kaiserreiches, Metternich hat das Gebiet 1814/15 der Schweiz angeschlossen, obwohl ein geeinigter und unabhängiger Jura einflußreicher hätte sein können.

Seit 30 Jahren reißen die Reibungen zwischen den jurassischen Separatisten, besser gesagt Autonomisten, die einen eigenen Kanton im Rahmen der Eidgenossenschaft verlangen, und den Bernern nicht ab. Im Grunde haben beide Seiten bereits

1970 die Idee eines neuen, also 26. Kantons Jura akzeptiert. Doch die Schweizer Amtsmühlen mahlen nicht schneller als anderswo. Ein Kanton Jura muß von allen Schweizern durch Volksabstimmung ratifiziert werden, und ein neuer Kanton kann nur durch eine Verfassungsänderung tatsächlich entstehen. Hier liegt das Dilemma.

Im Frühling 1976 haben sich die Einwohner der jurassischen Amtsbezirke gegen einen Verbleib beim Kanton Bern ausgesprochen, wobei joft „fragwürdige Mittel“ gehandhabt wurden — Demonstrationen, Häuserbeschädigungen und ähnliches, was die anderen Eidgenossen sehr schockiert hat.

Heute gibt es im Jura zwei Organisationen: das „Rassenblement jur-assien“, radikal und bernfeindlich, dessen Führer Roland' Beguelen keinen Kompromiß eingehen will, und die „Force democratique“, gemäßigt und berntreu. Der Konflikt erreichte am 7. September 1975 einen Höhepunkt, wobei auch Molotowcocktails flogen. Der beliebte schweizerische Nationalsport, das Flaggenschwingen, erinnert die Touristen an diese Atmosphäre: im Nordjura die Jurafahne, im Südjura die Bernfahne.

Wenn man die jurassische Problematik eingehender untersucht, wird klar, daß die Jura-Frage, wie das auch bei der Ulster-Frage der Fall ist, im Grunde eine Strukturkrise mit stark sozialen Spannungen oder gar „Klassenkonflikten“ ist, wobei als Begleiterscheinungen der sogenannten „Kultur-(Sprachen- und Konfessions)kämpfe“, Arbeitskonflikte und Betriebsbesetzungen heute sehr oft vorkommen.

Gingen 1975 in der Schweiz durch Arbeitskonflikte insgesamt 1733 Arbeitstage verloren, wurde 1976 diese Zahl bereits in den ersten beiden Monaten überschritten. Betroffen waren fast ausschließlich Betriebe im französischsprachigen Teil des Landes.

Die Welschschweizer, die sich in der Mentalität eindeutig von den Deutschschweizern unterscheiden — „die Welschschweizer arbeiten, um zu leben, bei den Deutschschweizern ist es umgekehrt“, sagt man hier — sind sozialpolitisch und auch kulturell lebhafter.

Die Deutschschweizer, vor allem die Berner, gelten dagegen als agrarisch-konservativ, durchaus mit sich und ihrer „kleinen schönen Welt“ zufrieden, bedächtig und verwurzelt in deutschschweizerischer Folklore. Manchmal, geographisch bedingt, sogar ziemlich wirklichkeitsfern. Der Jura, dessen Synonyme Joux, Jorat, Jorasse und Juriens waren, was ursprünglich Wälder bedeutete, ist seit langer Zeit wirtschaftlich zurückgeblieben, weshalb der Kanton Bern 1815 nur widerwillig sich diese „rauhe waldreiche Gegend“ einverleibte. Diese Gegend ist heute von der Strukturkrise der Uhrenindustrie hart getroffen, und die Arbeitslosen in diesen Uhrenmetropolen haben kaum Chancen, rasch einen neuen Job zu finden.

Manche Deutschschweizer erklären denn auch: „Von mir aus sollen sie ihren Kanton haben, wenn sie es wünschen. .Allerdings, scheinen sie sich der Konsequenzen nicht ganz he.wußt.;zw.sei^—neue Sdiulen, Spitäler, vermehrte Steuerlast!“ Öder: „Sie sind der einzige katholische Teil Berns; Tatsache ist, daß sie wirtschaftlich und schulisch benachteiligt wurden und daß sich möglicherweise daraus ein Haß gegen Bern entwik-kelte.“ Dann ist da auch die sprachliche Barriere, doch muß gesagt werden, daß viele Berner französisch, die Jurasser aber kaum deutsch sprechen.

Die Gewalttaten von Solothurn geschahen unter der Bezeichnung „Schutzkommando Freie Natur, Territorialabteilung Jura“, von den man vor Mitte Juni 1976 nie gehört hatte. Neben Terror gab es auch etwas zum Schmunzeln: die „autonomistische Frauenvereinigung zur Verteidigung des Juras“ (Association feminine pour la defense du Jura, AFDJ) hat am 6. Juni ihr unpolitisches Ausflugs-Picknick wegen möglichen Zusammenstößen von Plagne im Südjura nach Saingneleger im Nordjura verlegt.

Der Jura wird gerne als wunderschöne Gegend „hinter den blauen Bergen“ bezeichnet. Dort steht aber auch der „Montagne du Droit“, der Berg des Rechtes. Werden die Jur-assier ihr Recht bekommen? Und wann, und auf welche Weise?

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