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Zwischen den Kantonen

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„Dem Bund Kanonen, Kultur dien Kantonen“ war lange die Leitlinie schweizerischer Politik. Nun ist auch sie — wie so vieles — in Frage gestellt worden, und zwar durch die technische Entwicklung einerseits und durch die unruhig gewordene Jugend anderseits. Welches von beiden Ursache und welches Wirkung war, läßt sich nicht mit absoluter Klarheit feststellen. Die aktuelle Stoßrichtung ist gegenwärtig eine doppelte:

• Am 1. Juni hat das stimmfähige (also männliche!) Schweizervolk darüber zu befinden, ob ein 125 Jahre altes Gesetz ohne verbessert und angepaßt zu werden ausgeweitet werden soll. Hier geht es den Gegnern wie den Befürwortern um die Finanzierung einer zweiten technischen Hochschule durch den Bund, doch wollen die „Kontestatäre“ gleichzeitig den Kompetenzausbau des Bundes erweitern.

• Auf der anderen, der kantonalen Ebene geht es darum, das Schulwesen der unteren Stufen gesamtschweizerisch zu koordinieren, wenn hier vorläufig auch jedermann noch einsieht, daß ein „Eintopfgericht“ bei den soziologischen, ethnologischen und religiösen Unterschieden, wie sie von Kanton zu Kanton bestehen, nicht die Lösung sein kann.

Auf dem Hochschulsektor ist der technische Fortschritt eindeutig der Treibriemen zur Veränderung.: Während die „Eidgenössische Technische Hochschule“ in Zürich — wie schon ihr Name sagt — stets eine Bundesanstalt war, hatte die „EPUL“, nämlich die technische Hochschule in Lausanne, kantonalen Stitus und daher gewaltig mit Finanzsorgen zu kämpfen. Die Erzföderalisten riefen nach Bundeshilfe, denn sie fürchteten ein Überhandnehmen der E~H in Zürich.

Regierung und Parlament stimmten der Idee zu, das alte Gesetz einfach in dem Siinn zu ändern, daß es in seinen Finanzierungskompetenzen auch auf Lausanne angewendet werden könnte. Es wurden zwar verschiedene Einwände laut, teils von jenen, die gegen Bundesunterstüt-zung sind, teils von jenen, die ein modernes Gesetz vorgezogen hätten, aber die Realpolitiker ginigen von der Überzeugung aus, die Bundes-flnanzierung sei nötig und die eigentlichen strukturellen Mängel des Gesetzes könnten in einer gleichzeitig eingeleiteten Revision durchgesetzt werden.

Eine Gesellschaftsgruppe aber blieb stumm: die Studenten. Erst Marcuse, Rudi Dutschke und Cohn-Bendit weckten sie auf. Sie begannen Unterschriften zu sammeln und erreichten schließlich, daß das neue alte Gesetz vor das Volk gebracht werden muß. Die „Gesellschaft für Hochschule und Forschung“ formulierte die Vor- und Nachteile wie folgt: „Eine Zustimmung zum vorgeschlagenen Gesetz würde heute die Gefahr in sich schließen, daß diese Fassung zu einer Dauerlösung werden müßte, was weder die Absicht des Bundesrates noch des Parlamentes gewesen ist. Die Ablehnung des Gesetzes erscheint daher als der naheliegende Weg, um sicher und in nützlicher Frist zu einer besseren Lösung der Struktur- und Koordinationsfragen der beiden Hochschulen von Lausanne und Zürich zu gelangen.“ In einem Punkt aber dürfen sich die „Gesetzesgegner aus Fortschrittlichkeit“ keinen Illusionen hingeben: nicht alle Nein-Stimmenden sind progressiv! Im Nein-Lager sammeln sich auch jene Kreise, die aus falscher Pietät oder aus Sonderinter-essen heraus jede Einschränkung der kantonalen Schulhoheit ablehnen, und es gesellen sich zu ihnen sogar noch jene, die das für Forschung und Wissenschaft bereitgestellte Geld lieber für Fußballplätze und Park-garagen ausgeben möchten. Wenn also auch das Nein allenfalls siegen sollte, so ist die Mehrheit zu heterogen, als daß damit später eine positive Aufbauarbeit gesichert werden könnte.

Parallel zu diesem Hochschulproblem diskutiert die schweizerische Öffentlichkeit die Schulkoordination auch auf den unteren Lehrstufen. Nicht nur die Lehrmittel, sondern auch die Lehrprogramme wechseln von Kanton zu Kanton — natürlich aus einer Zeit, da ein „Zugereister“ noch Seltenheitswert hatte. Heute aber, da die Fluktuation zwischen den Kantonen stets zunimmt, da Beamte von einem Ort zum andern versetzt werden können, da Großfirmen ihre Leute von einer Filiale zur andern schicken, ist die übertriebene Schulvielfalt nur noch von Übel. Im Kanton Bern zum Beispiel beginnt der Fremdsprachenunterricht schon im fünften, in Zürich aber erst im siebten Schuljahr, doch das Schuljahr selbst fängt in Bern im Herbst, in Zürich im Frühling an. Die kantonalen Erziehungsbehörden schlagen nun ein „Konkordat“ ziur Koordination vor. Eine solche Übereinkunft müßte von der Bundesregierung genehmigt werden, worauf jeder einzelne Kanton ihm beitreten kann oder nicht — allerdings nach kantonal grundverschiedenen Modalitäten. So kann in einem Kanton das kantonale Parlament entscheiden, in anderen muß das Volk darüber befinden.

Die Jugendfraktion der Schweizerischen Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei fordert eine Bundesgesetzgebung und lanciert eine entsprechende Initiative. Dies würde selbstverständlich eine Teilrevision der Verfassung bedingen. Der Föderalismus müßte in einem wesentlichen Punkt Federn lassen; den Zentralbehörden würden nebst den Kanonen zwar noch nicht die ganze Kultur, aber wenigstens das Schulwesen überantwortet, womit der Kreis zur eidgenössischen Abstimmung vom 1. Juni geschlossen ist. Tatsächlich geht es aber nicht um Hochschulen oder Schülkoordination. In Wirklichkeit geht es um die Uberwindung traditioneller und längst veralteter Vorstellungen vom Begriff Föderalismus. Zu einem Zeitpunkt, da nicht mehr nur Staaten, sondern ganze Kontinente unter sich eine engere Verbindung suchen und suchen müssen, geht die talabgeschiedene Ichbezogenheit nicht mehr an. Der Föderalismus muß nicht abgeschafft, wohl aber den modernen Bedürfnissen und Gegebenheiten angepaßt werden.

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