"Dieser Hass vergeht nicht so schnell“

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Die Welt schaut weg, als 1994 rund eine Million Menschen in Ruanda abgeschlachtet werden. Auch die Uganderin Ary Otiti, die unweit der Geschehnisse wohnt, realisiert erst spät den Massenmord - und will nun Ruandas Geschichte anhand von Frauen-Biografien erzählen.

Man schreibt den 6. April 1994. Ary Otiti, 24 Jahre alt und Literatur-Studentin in Ugandas Hauptstadt Kampàla, ist gerade auf Heimaturlaub in ihrem Dorf Kabale nahe der Grenze zu Ruanda, als es im Nachbarstaat zu einem folgenschweren Zwischenfall kommt: Beim Landeanflug auf den Flughafen von Kigali wird die Maschine des ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana mit Boden-Luft-Raketen beschossen. Der Präsident, sein Amtskollege aus Burundi und alle anderen Passagiere sind sofort tot.

Die Attentäter sind bis heute unbekannt. Waren es extremistische Hutu, denen das Friedensabkommen ihres Präsidenten mit den Tutsi zu weit ging? Oder waren es Mitglieder der Tutsi-Rebellenbewegung Ruandische Patriotische Front (RPF), die den langjährigen Konflikt mit der Hutu-Regierung endlich per Bürgerkrieg entscheiden wollten? Man weiß es nicht. Nur das unfassbare Blutbad, das dieser 6. April auslösen sollte, ist mittlerweile historisch verbrieft: Rund eine Million Menschen, Tutsi ebenso wie gemäßigte Hutu, werden binnen 100 Tagen massakriert: mit Speeren, Äxten und importierten Macheten. Groß gewachsene Tutsi werden "zurechtgestutzt“ und verstümmelt, Frauen und Kinder vergewaltigt, Menschen in Gebäude getrieben und lebendig verbrannt. Ein unvergleichliches Gemetzel. Und die ganze Welt schaut zu.

Propaganda und Entmenschlichung

Obwohl: Eigentlich schaut niemand zu - nicht die USA, die gerade mit O.J. Simpson beschäftigt sind; nicht die UNO, die nur von "verhängnisvollen Umständen“ faselt - und schon gar nicht ausländische Reporter. Niemand berichtet darüber, dass die Hutu-Regierung massenhaft Kofferradios verteilt und der Propaganda-Sender "Libre des Mille Collines“ die Tutsi als "Kakerlaken“ entmenschlicht; niemand schreibt über die "Zehn Gebote der Hutu“, die in der Zeitung "Kangura“ prangen und sicherstellen sollen, dass Hutu selbst beste Freunde und Partner töten, wenn sie zum gegnerischen Stamm gehören; und niemand dokumentiert das massenhafte Schlachten. "Die meisten Fotos zeigen nur die Knochen der Opfer“, schreibt die Journalistin Ary Otiti Jahre später in einem Essay über die Rolle der Medien beim Genozid von Ruanda.

Auch sie selbst kann im April 1994 die Verbrechen nicht erahnen, obwohl die Hölle wenige Kilometer von ihrem Elternhaus entfernt beginnt. "Bei uns in Kabale waren viele Tutsi, die aus Ruanda geflüchtet sind, aber die Ausmaße dieses Massenmordes konnte niemand abschätzen“, erzählt die 40-Jährige im Rahmen eines Österreich-Besuchs.

Wer konnte auch diesen abgrundtiefen, von Generation zu Generation weitervererbten Hass zwischen zwei Stämmen begreifen? Ary Otiti, selbst zum Stamm der "Bakiga“ im Südwesten Ugandas gehörig, älteste von fünf Töchtern einer tief religiösen, anglikanischen Lehrerfamilie und seit ihrer Studentenzeit Mitglied einer Pfingstgemeinde, konnte das noch nie. Schon allein wegen ihres Glaubens. "Der Glaube verbindet uns wie nichts anderes, weil er uns erlaubt, jenseits unserer Unterschiede zu denken“, sagt Otiti, die nach ihrem Studium in Kampàla und einer Journalismusausbildung acht Jahre lang als Chefredakteurin des (mittlerweile eingestellten) christlichen Magazins "Relate“ tätig ist.

Erst als sie 2005 mit ihrem Mann, einem Hals-, Nasen-, Ohrenarzt, und ihrem kleinen Sohn ein Jahr im südafrikanischen Kapstadt verbringt, kann sie nachvollziehen, wie lange Vorurteile zwischen Menschen währen können. "Die Apartheit war schon lange vorbei. Und trotzdem mussten meine weißen Freunde ihren weißen Freunden immer erklären, dass ich aus Uganda bin“, erinnert sie sich. "Eine fremde Schwarze war akzeptierter als eine südafrikanische Schwarze.“

Drei Jahre später, als sie sich nach einem Zwischenstopp in Uganda mit Mann, Sohn und Tochter in Ruandas Hauptstadt Kigali niederlässt, mittlerweile eine der sichersten und saubersten Städte Afrikas, hat sie ein ganz ähnliches Gefühl: Obwohl ein Gesetz die Zuschreibung zum Stamm der Hutu oder Tutsi verbietet und nur noch von Ruandern gesprochen werden darf, behalten die Menschen ihre Kategorisierungen bei. "Gerade auf dem Land wohnen die Leute Tür an Tür mit jenen, die ihre Verwandten ermordet haben“, sagt Ary Otiti, die heute in Kigali als freie Journalistin arbeitet. "Dieser Hass vergeht nicht so schnell.“

Sie selbst möchte ihren Beitrag leisten, um ihn zu überwinden: mit ihren Artikeln; mit ihrem Engagement in der Pfingstgemeinde; und mit einem Buch über Ruandas Frauen, das sie gerade plant. "Diese Frauen, die so viel durchgemacht haben, heben Straßengräben aus und sitzen als Ministerinnen in ihren eigenen Büros“, erzählt sie. "Auch das ist Ruanda. Auch das ist Afrika.“

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