"Ruanda kann sich wiederholen"

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In ihrem Buch "Kein Zeuge darf überleben. Der Genozid in Ruanda" hat die US-amerikanische Historikerin und Menschenrechtsaktivistin alison des forges eine minutiöse Chronik des Völkermords 1994 gezeichnet; kürzlich wurde sie in Wien dafür mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch 2003 geehrt. Die furche sprach mit ihr über die blutigen Ereignisse von vor zehn Jahren.

Die Furche: In der internationalen Presse hat man den Völkermord in Ruanda häufig als blutige Eruption einer alten Feindschaft zwischen den Tutsi, die lange Zeit die staatliche Elite gebildet hatten, und den Hutu dargestellt. Sie beschreiben den Genozid ganz anders.

Alison Des Forges: Die Spannungen zwischen den Gruppen wurden von einer kleinen skrupellosen Gruppe von Personen instrumentalisiert. Bereits seit 1992 konnte ich die Planung und Vorbereitung des Genozids beobachten. Man hat paramilitärische Einheiten rekrutiert und ausgebildet und an normale Bürger Waffen verteilt. Eine kleine Hutu-Gruppe hat den Genozid geplant. Gemäß einem bereits ausverhandelten Friedensvertrag mit der Tutsi-Armee (Patriotische Front Ruandas) hätten die Hutu einen Teil ihrer Macht abgeben müssen. Doch die radikalen Hutu wollten die ganze Macht. Sie haben die Macht an sich gerissen, um ihren eigenen Machterhalt zu sichern.

Die Furche: Der Genozid in Ruanda begann einen Tag nachdem das Flugzeug mit dem gemäßigten Hutu-Präsidenten Juvénal Habyarimana von bisher unbekannten Tätern abgeschossen wurde. Welche Bedeutung hatte dieses Ereignis für die weitere Entwicklung?

Des Forges: Der Abschuss des Flugzeugs hat den Genozid nicht verursacht, aber er hat ihn in Gang gesetzt. Der Tod des Präsidenten gab der kleinen Gruppe, von der ich eben gesprochen habe, die Möglichkeit, einen Staatsstreich durchzuführen. Am folgenden Morgen haben sie den Premierminister umgebracht, ebenso wie andere Personen, die für eine legitime Regierung nötig sind.

Die Furche: Sie kritisieren in Ihrem Buch sehr stark die Rolle der internationalen Gemeinschaft, die bereits Monate vor Ausbruch der Gewalttätigkeiten über die Vorbereitungen zum Genozid informiert war. Worin sehen Sie die wichtigsten Versäumnisse der Staatengemeinschaft?

Des Forges: Als die Gewalttätigkeiten begannen, hat sich die internationale Gemeinschaft so schnell wie möglich aus dem Staub gemacht. Man hat zwar einige militärische Eliteeinheiten nach Ruanda geschickt, aber nur um Europäer auszufliegen, die gar nicht bedroht waren. Die Vereinten Nationen hatten sogar Peace-keeping-Kräfte im Land stationiert, aber sie zogen sie zum größten Teil ab, so dass niemand mehr da war, um die Ordnung aufrecht zu erhalten. Einige Militärs in Ruanda wollten dem Genozid Widerstand leisten und suchten Unterstützung aus dem Ausland, aber niemand half ihnen. Zufällig war Ruanda damals Mitglied des Sicherheitsrates, jedoch hat keiner das Land aufgefordert, seinen Sitz niederzulegen. Indem die internationale Gemeinschaft die Regierung und den Genozid stillschweigend duldete, konnte sich die Regierung ihrer eigenen Bevölkerung lange Zeit als rechtmäßige, international anerkannte Regierung präsentieren. Das hat es der Regierung leicht gemacht, die eigenen Leute dazu zu bringen, bei der Tötung der Tutsi zu kooperieren.

Die Furche: In ihrem Buch dokumentieren Sie den Genozid auch auf der lokalen Ebene. Können Sie ein Beispiel geben, wie sich die UN-Entscheidung in den Städten und Dörfern auswirkte?

Des Forges: In einem Krankenhaus der Präfektur Butare beispielsweise haben Hutu und Tutsi selbst nach Beginn des Genozids noch ohne Schwierigkeiten zusammengearbeitet. Doch als sich die Regierung aufgrund des Schweigens der internationalen Gemeinschaft entschlossen hatte, den Völkermord auszuweiten, schickte man Soldaten zum Krankenhaus. Sie kamen mit einem Lieferwagen, der mit Macheten beladen war. Sie riefen das Krankenhauspersonal in den Hof. Dann befahlen sie den Hutu, ihre Tutsi-Kollegen mit den Macheten umzubringen. Die Hutu weigerten sich, woraufhin die Soldaten drei Hutu umbrachten. Erst dann ergriffen die restlichen Hutu die Macheten und fingen an, ihre Kollegen zu töten.

Die Furche: Warum hat sich die internationale Gemeinschaft so passiv verhalten?

Des Forges: Jedes Land hat seine eigenen Interessen verfolgt. Frankreich war mit dem Präsidenten Habyarimana verbündet und unterstützte auch die Nachfolgeregierung im Kampf gegen die Tutsi-Guerilla. Belgien, die frühere Kolonialmacht, wollte in erster Linie die eigenen Soldaten schützen, die im Rahmen der UN-Friedensmission im Land stationiert waren. Nachdem zehn belgische Soldaten umgebracht worden waren, zog Belgien seine Truppen zurück. Das war genau das, was man mit der Ermordung der Soldaten hatte erreichen wollen. Um den eigenen Rückzug zu verbergen, setzte sich Belgien dafür ein, dass die gesamte Friedensmission abgezogen wurde. Ausschlaggebend für den Sicherheitsrat war vor allem die Politik der USA. Die USA hatten sich schon einige Monate vor dem Genozid entschlossen, um jeden Preis zu vermeiden, wieder in Schwierigkeiten zu geraten - denn ein Jahr zuvor waren US-Soldaten bei der Friedensmission in Somalia getötet worden.

Die Furche: Glauben Sie, dass sich so etwas wie in Ruanda heute wiederholen kann?

Des Forges: Es kann sich wiederholen, und es wird sich wiederholen. Wir haben zwar einiges gelernt, z. B. hat die UNO akzeptiert, dass Peace-keeping-Kräfte die Pflicht haben, die Zivilbevölkerung zu schützen, was vor zehn Jahren nicht der Fall war. In Ituri, im Nordosten des Kongo, haben wir letztes Jahr gesehen, dass die EU Soldaten geschickt hat, solange die UN-Kräfte nicht in der Lage waren, für Ordnung zu sorgen. Mit dem Internationalen Gerichtshof in Arusha hat man erstmals in der Geschichte den Großteil der Hauptverantwortlichen eines Völkermords vor Gericht gestellt und mit den Urteilen Präzedenzfälle geschaffen. Erstmals ist dort Vergewaltigung als Verbrechen des Völkermords anerkannt worden. Doch wir müssen damit rechnen, dass so etwas wieder passiert. Entscheidend ist, dass wir dann reagieren, am besten schon, bevor es passiert.

Das Gespräch führte Christian Brüser.

Chronistin des Genozids

Vor zehn Jahren, am 7. April 1994, begann in Ruanda der grausamste und größte Völkermord nach dem Holocaust. Im Tempo des Mordens hat er ihn sogar noch übertroffen. Innerhalb von nur 13 Wochen wurden bis zu einer Million Menschen hingeschlachtet. Die meisten Opfer zählten zur Minderheit der Tutsi, drei Viertel von ihnen hat man ausgelöscht. Doch mit ihnen starben auch Tausende vom Mehrheitsvolk der Hutu, die das Morden ablehnten oder versuchten, Tutsi zu beschützen. In ihrem Buch mit dem Titel "Kein Zeuge darf überleben. Der Genozid in Ruanda" (s. u.) beschreibt Alison Des Forges die Vorgeschichte, Planung und Durchführung des Genozids in Ruanda. Sie beleuchtet die beschämende Rolle der internationalen Gemeinschaft und zeigt überzeugend, dass es sich bei der systematischen Tötung der Tutsi nicht um den unkontrollierten Ausbruch eines althergebrachten Stammeshasses handelte, sondern dass eine kleine, privilegierte Hutu-Elite ganz bewusst Hass und Angst verbreitet hat, um ihren Machterhalt zu sichern.

Alison Des Forges, geb. 1942 in den USA, studierte in Harvard europäische Geschichte ("ziemlich langweilig") und unterrichtete während ihrer Studienzeit in Tansania Flüchtlinge aus Ruanda. Zurück in den USA, wechselte sie zur afrikanischen Geschichte und promovierte an der Yale-University über die Geschichte Ruandas. Neben der Lehrtätigkeit an Universitäten in den USA und China arbeitet sie ehrenamtlich für die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Im Jahr des Genozids, 1994, gibt Des Forges ihre akademische Laufbahn zugunsten der Arbeit für Human Rights Watch auf. Bis heute ist sie dort für Ruanda, Kongo und Burundi zuständig. Des Forges hat zwei Kinder und lebt mit ihrem Mann in der Nähe New Yorks.

Kein Zeuge darf überleben. Der Genozid in Ruanda

Von Alison Des Forges, Hamburger Edition, 2003, 947 Seiten, geb., e 40,-

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