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Armut im Wohlfahrtsstaat

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L’EXCLUSION SOCIALE. Jules Kl an f er (Cahiers Science et Service, Vol. 2). Pari XI 1965, brosch. 262 Seiten.

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L’EXCLUSION SOCIALE. Jules Kl an f er (Cahiers Science et Service, Vol. 2). Pari XI 1965, brosch. 262 Seiten.

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Die Armut ist eine Erscheinung, von der man heute bisweilen vermutet, sie sei im Rahmen der Liquidation des Industrieproletariats mitliquidiert worden und durch die Maßnahmen der Sozialpolitik zu einer ausnahmsweisen Lebensform geworden; eine Einzelfallarmut. Untersuchungen vor allem im französischen und im nordamerikanischen Raum haben uns aber davon zu überzeugen vermocht, daß die klassische Armut, die Großgruppe der arbeitenden Armen, so gut wie liquidiert worden ist. Armut ist heute nicht mehr die typische Versorgungslage der Mehrheit der Bevölkerung. Nicht aber jede Erscheinungsform von Armut. Nicht die Armut der Unterprivilegierten, der Minderheiten etwa. Daneben wächst eine Armut auf, die von der „Gesellschaft des Überflusses“ gleichsam produziert worden ist, eine „neue Armut“.

Diese neue, der Vorsongungsweise und V erteilum gso rdnung unserer Gesellschaft entsprechende Armut, ist Gegenstand einer Sondertagung in Paris (Februar 1964) gewesen („Colloque sur les familles inadaptées“). Jules Klanfer, Österreicher, nunmehr wieder in Wien und Leiter des Institutes für Entwicklungsfragen, hat die Ergebnisse der Tagung zusammengestellt und ausgezeichnet schöpferisch interpretiert.

Einer einigermaßen erstaunten Öffentlichkeit werden bei der Tagung aus dem geschlossenen und verschlossenen Bereich einer von Abbé Pierre errichteten Elendssiedlung (Noisy le Grand) Resultate über die Analyse einer räumlich konzentrierten Armut vorgelegt. In dieser Kleingesellschaft exklusiver Armut entwickelt sich eine eigenartige Subkultur. Es ist nicht die „Hartherzigkeit“ der Milieugesellschaft, nicht eine ausbeutende Herrenschichte, sondern eine Art Selbstbestimmung, die Menschen, wie sie uns im genannten Camp begegnen, auf den Status der Armut, einer „miserablen“ Versorgungslage absinken läßt.

Das Buch Klanfers (es soll 1967 in einer deutschen Übersetzung erscheinen) bringt erschütternde Beispiele einer geradezu naturgewachsenen Armut, die perpetuiert, von Familie zu Familie weitergegeben wird, als Folge von Krankheit und wegen der Korrelation von Familien-

einkommen und mangelhafter Berufsausbildung, wegen unzureichender Anpassung an ein Milieu, dessen produktive Resultate den Menschen, welche jenseits der Armut leben, steigende Wohlfahrtschancen bieten, während die Armen von Noisy in ihrem Elend stabilisiert und auf die Befriedigung animalischer Bedürfnisse fixiert werden (relative Verelendung).

Das Buch, Analyse sowohl wie eine Darstellung karitativ-praktischer Maßnahmen, verdient weiteste Beachtung, vor allem in einer Welt, die davon ausgeht, daß zumindest in den Regionen der entwik- keliten Wirtschaft die Armut eine singuläre Erscheinung geworden sei, und nun eines besseren belehrt wird. Ebenso erfahren wir vom Heroismus katholischer Laien und humanistischer Marxisten, die stich in den Zonen des Elends niedengelasen haben, um die Armut reparieren zu helfen.

Neben der Produktion von Reichtum und den Versuchen, eine perfekte Verteilungsigerechtigkeit abzusichern, sind Partisanen der Liebe und einer realen Humanität engagiert, die in einer besonders drastischen Weise Zeugnis einer Mitmenschlichkeit ablegen, mit der wir, an ein Allzuviel an verbaler oder bürokratischer Soziialireform gewohnt, konfrontiert werden.

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