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Die absolute und die relative Armut

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Im Sinn der üblichen Einteilungsprinzipien wird die Armut in eine absolute und in eine relative aufgegliedert. Die absolute Armut besteht und entsteht jenseits historischer und modiflzierbarer Bedingungen, etwa als Folge von Brest- haftigkeit. Als eine naturbegründete Armut wird es diese absolute Armut in Form singulärer Erscheinungen stets geben; zum Teil auch eine spontane Armut. Eine typische Form relativer Armut ist die Massenarmut in den berüchtigten europäi-

sehen Gewerbelandschaften des 19. Jahrhunderts gewesen. Aus den Bedingungen früh- und hochkapitalistischer Verteilungsordnung ist schließlich das Phänomen des neuzeitlichen Pauperismus entstanden, der Niederschlag einer Verarmung der Eigentumslosen, die in der

Epoche der ersten industriellen Revolution trotz einer korporativ organisierten Gesellschaft weder an diese noch an Versorgungsverbände regressieren konnten.

Ein bleibender Rest?

Das Proletariat, von Karl Marx für die Dauer des Bestandes einer kapitalistisch orientierten Verteilungsordnung als Großgruppe naturwüchsiger Armer verstanden, emanzipiert sich allmählich und verläßt vermöge Eigenmacht und von Sozialnormen (deren Vollzugsadressaten die Eigentümer von Produktionsmittel sind) bis auf Restgruppen den Lebensbereich des Pauperismus. Ehedem arbeitende Arme, sind die Proletarier jetzt ein Teil der Wohlfahrtsgesellschaft und werden von der bürgerlichen Gesellschaft, die bisher nur eine Teilgesellschaft war, faktisch und de jure aufgenommen.

Nach der Emanzipation der Mehrheit der Arbeiterschaft ist aber ein Restpauperismus sichtbar geworden, der mit den konventionellen Methoden von Sozialpolitik und sozialrelevanter Strukturpolitik nur teilweise beseitigt werden kann, so daß man fast geneigt ist, anzunehmen, daß sich aus dem Prozeß einer Entpau- perisierung ein bleibender Rest an absoluter Armut herausgelöst hat. Insoweit ist die Armut neuer Art ein Kuppelprodukt der Entproletari- sierung.

Einzel- und Gruppenarmut

Nach der Häufigkeit des Auftretens ist die typische neue Armut entweder eine Einzelfallarmut, die von der Soziologie vernachlässigt werden kann, eine massenweise Armut in halbentwickelten Ländern, etwa in Südamerika, oder eine regionale, insulare Armut.

Die Einzelfallarmut (case poverty) ist der „neuen Armut“ nur bedingt zuzurechnen, da sie am Rande oder jenseits des Randes jeder Gesellschaft als eine spontane oder vorweg naturbegründete Armut vorhanden ist, deren Bestand damit zusammenhängt, daß angebotene gesellschaftliche Dienste und Einkommenschancen spontan abgewiesen oder aus einem natürlichen Unvermögen nicht genutzt werden können.

Die gruppenweise auftretende Armut ist vor allem in Form von Familienarmut und noch eindeutiger in der angeführten insularen Armut dargestellt. Die Armenregionen (in der Nähe von Paris oder in Gebieten von Westvirginda) sind Ansammlungen von sozialen Grenzexistenzen im Lebensbereich der Wohlfahrtsgesellschaften und reflektieren deren Aufwüchsprozesse.

In der Gegenwart und unter den Lebenschancen der Wohlfahrtsge- sellschaft sind die konstitutiven Bedingungen der insularen Armut als einer typischen Form „neuer Armut“ in erster Linie eine (gene- rell-)berufliche oder spezifisch- berufliche Un-Bildung. Es fehlen den

Armen die im Wissen und im Arbeitsvermögen an sich angelegten Möglichkeiten, Erwerbsgelegenheiten zu nutzen.

Dazu kommt noch, daß durch die Intellektualisierung der Arbeitsverfahren viele Arbeitnehmer, die lediglich einen physischen Arbeitseinsatz anbieten können, allmählich an den Rand der Leistungsgesellschaft verwiesen werden. Vor allem bei älteren und nur manuell tätigen Arbeitnehmern sinkt die Einkommenskurve proportional zu der Abnahme ihrer physischen Kräfte.

An den Rand verwiesen

Eine der unzureichenden beruflichen Vorbildung ähnliche Wirkung tritt als Folge langdauernder Arbeitslosigkeit ein. Nach einer Untersuchung des „Bureau des Reserches sociales“ in der in einer tragischen Weise für die „neue Armut“ repräsentativ gewordenen Armensiedlung von Noisy le Grand bei Paris sind 46 Prozent der in der Siedlung Wohnenden und über 20 Jahre alten Personen arbeitslos. Von den registrierten Armen der Vereinigten Staaten von Nordamerika sind nicht weniger als 25 Prozent arbeitslos; nicht selten werden lange Zeit arbeitslos Gewesene (drop outs) nicht mehr in den Statistiken der Arbeitsverwaltung geführt, also formell aus der Arbeitsgesellschaft verwiesen. Dadurch aber scheiden diese Arbeitslosen auch aus der bürgerlichen Gesellschaft, die in den USA noch immer mit der Arbeitsgesellschaft identisch ist, geradezu förmlich aus.

Eine typische Form der Konstitution „neuer Armut“ ist die Anpassungsarbeitslosigkeit, unter anderem die Automationsarbeitslosigkeit.

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