Wolke - © Foto: iStock

Unheimliche Echtheit: Lydia Mischkulnigs Erzählungen „Die Gemochten“

19451960198020002020

Lydia Mischkulnig legt mit „Die Gemochten“ einen fein ausbalancierten Erzählband vor.

19451960198020002020

Lydia Mischkulnig legt mit „Die Gemochten“ einen fein ausbalancierten Erzählband vor.

Werbung
Werbung
Werbung

Nicht der Roman, die Kurzgeschichte ist die Königs­disziplin der Prosa. Sie erlaubt keine Fehler, weder formal noch sprachlich. Wenn hier etwas nicht funktioniert, merkt man es sofort und, erstaunlicherweise, haben Leser und Leserinnen weniger Geduld und Nachsicht. Gesteht man es dem Roman zu, dass er ein bisschen brauchen kann, bis er in die Gänge kommt oder man selbst hineinfindet, ist das bei der Kurzgeschichte nicht der Fall. Es funkt, oder man blättert zur nächsten. Wenn es dann nicht funkt, schlägt man das Buch vermutlich zu.

Lydia Mischkulnigs neues Buch enthält keine Kurzgeschichten, sondern Erzählungen, das Prinzip bleibt aber dasselbe – kurze Prosatexte müssen sehr viel präziser und überlegter konstruiert sein als lange. Gemessen daran erscheint Lydia Mischkulnigs bei Leykam erschienener Band „Die Gemochten“ zunächst zumindest in der Textanordnung verbesserungswürdig, er startet nämlich unverbindlich und entfaltet seine ganze Qualität erst nach und nach.

Wer in der ersten Erzählung „Ahhhhhhhhhhhhhmen“ spricht, bleibt unklar, eine künstliche Intelligenz, ein Roboter? Das ist nicht schlecht gemacht, aber gerade ein Trendthema, das man in so vielen Variationen in letzter Zeit gelesen hat, dass es etwas ermüdet herauszufinden, inwiefern sich diese Geschichte davon unterscheidet. Trendthemen, auch das zieht sich als roter Faden durch den Band. Wokeness (und ihre absurden Auswüchse) ist so ein Thema, an dem sich die Autorin literarisch abarbeitet. „Trifft der ‚weiße Gespritzte‘ auf Sie zu, fragte Maggie, als dann der weiße Gespritzte serviert wurde. Joshua zog die Augenbrauen zusammen und nahm einen Schluck, der ihn erfrischte, und fragte, was sie damit meine? Maggie entschuldigte sich für die Koketterie, ihn als Verkörperung eines ‚weißen Gespritzten‘ gesehen zu haben. Sie verstehe ihn sehr gut und sagte, dass sie als menstruierender Mensch bezeichnet sich auf einen menstruierenden Menschen reduziert fühlt, obwohl sie eine Frau sei. Sie bestehe nicht nur aus Blut!“ Maggies Weg, dieses Thema ins Spiel zu bringen, wirkt eher plump als kokett. Und auch wenn man ihre Empörung versteht, merkt man doch dahinter deutlich die Empörung der Autorin. Dann noch die Erzählung über ein Liebespaar, das sich nur zum Sex in einem Stundenhotel trifft, auch das kennt man schon. Aber.

Zurück zum Anfang. Zum Anfang dieses Textes und zum Anfang des darin besprochenen Buches. Da hieß es, die Textanordnung wirke zunächst verbesserungswürdig. Ist man am Ende des Bandes angekommen, muss man dieses (Vor-)Urteil revidieren. Dann merkt man, dass der Band fein abgestimmt ist, Themen und Stimmungen greifen ineinander, spiegeln sich, widersprechen sich, werden wieder aufgegriffen. Fragt man sich zunächst, wie die erste Erzählung über eine künstliche Intelligenz zum Rest passt, stößt man irgendwann auf die Erzählung „Uncanny Valley. Unheimliche Nähe“, in der es um Robotik geht, darum, welche Beziehung man zu eigentlich unbelebten Maschinen aufbauen kann, wenn sie nur nahe genug am Echten dran sind – sobald sie aber zu echt wirken, wird es unheimlich. Warum sich noch mit einem Arbeit machenden Haustier plagen, wenn es eine lebensechte elektronische Kopie gibt, die keinen Schmutz macht und die man nicht Gassi führen muss? Ganz abgesehen von Roboter­seehunden, die in Japan eingesetzt werden, um mit Alzheimerpatienten in Seniorenheimen zu arbeiten. Mischkulnig umkreist das zunächst absurd Erscheinende, doch am Ende steht keine wertende Gewissheit. Was künstlich und was menschlich ist, steht zur Disposition, und die Antworten darauf sind eben nicht immer offensichtlich. So lohnt es sich auch, manche Geschichten ein zweites Mal zu lesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung