Wolke - © Foto: iStock

„Die Sackgasse“ von Vera Ferra-Mikura: Die verlorene Generation nach dem Krieg

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Mit „Die Sackgasse“, einem Roman für Erwachsene, hat Vera Ferra-Mikura ihre Karriere als Jugendbuchautorin begonnen. Nun wurde diese Persiflage auf die Literatur- und Kulturszene neu aufgelegt.

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Mit „Die Sackgasse“, einem Roman für Erwachsene, hat Vera Ferra-Mikura ihre Karriere als Jugendbuchautorin begonnen. Nun wurde diese Persiflage auf die Literatur- und Kulturszene neu aufgelegt.

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Seit geraumer Zeit erscheinen im Wiener Milena Verlag Kleinode nicht nur der österreichischen Literatur – vom Literaturbetrieb meist verdrängte oder aus unterschiedlichsten Gründen vergessene Bücher vorwiegend von Frauen. Hertha Pauli, Else Feldmann oder Annemarie Selinko seien hier genannt, aber auch bis dahin nicht mehr aufgelegte Werke von Otto Basil oder Friedrich Torberg. Eine Wiederentdeckung stellt auch „Die Sackgasse“ von Vera Ferra-Mikura dar. An deren „Stanisläuse“ mögen sich Leserinnen und Leser noch erinnern; dass die Karriere der Verfasserin von zweiunddreißig Jugendbüchern mit einem „Roman für Erwachsene“ begann, war bislang kaum bekannt.

Die Wienerin Vera Ferra-Mikura (1923–1997) arbeitete nach dem Abschluss der Hauptschule zunächst in der Vogelhandlung ihrer Eltern, später in einem Warenhaus, während des Zweiten Weltkriegs war sie Stenotypistin in einem Architekturbüro. Als Lyrikerin entdeckt wurde Vera Ferra von Otto Basil, der ihre vor 1945 entstandenen Gedichte erstmals in der legendären Zeitschrift Plan publizierte; 1946 wurde sie Mitarbeiterin in Wolfgang Schafflers „Festungsverlag“, wo auch ihre ersten Märchenbücher und „Die Sackgasse“ erschienen. Ab 1948 lebte Ferra-Mikura als freie Schriftstellerin.

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„Die Sackgasse“ ist ein Buch über die verlorene Generation von Jugendlichen, die in den Jahren des Dritten Reiches aufwuchsen und nach dessen Verwüstung ein neues Leben beginnen. Trümmerlandschaft und Bombenschäden kommen darin nicht vor, dass in diesem 1947 erschienenen Roman Nazis oder deren Opfer keine Rolle spielen, mag auf den ersten Blick verwundern, erklärt sich aber aus dem einfachen Umstand, dass den zeitgenössischen Lesern die kurz zurückliegende Barbarei hinlänglich bekannt war. Das von einem guten Dutzend Figuren bevölkerte Panorama einer nicht gerade freundlichen Kleinbürgergesellschaft ist umso deutlicher mit autobiografischen Erfahrungen der Autorin grundiert. Auch Wien wird im Buch namentlich nicht genannt, die Schauplätze an Donau und in der Lobau, in Innenstadt und Vororten sind eindeutig erkennbar.

Im Zentrum stehen die Geschwister Kleist und die Bewohner eines herabgekommenen Zinshauses in besagter, offenkundig symbolischer Sackgasse. Der gelernte Buchbinder Rupert Kleist, vierundzwanzig, möchte Schriftsteller werden und weiß nicht, wie das geht. Dessen lebenslustige Schwester Luise, siebzehn, ist Verkäuferin in einem großen Warenhaus, die ältere Schwester Fanny arbeitet als Stenotypistin. Gemeinsam mit der Mutter teilen sie ein Zimmer, die Wohnung ist von Schimmel und Ungeziefer befallen. Über die Sackgasse selbst heißt es einmal: „Sie schimmerte in allen Farben des Regenbogens bis hinunter zur Straßenecke. Petroleum, dachte Luise, wie ich dieses schmutzige Pflaster verabscheue.“ Aus dieser Welt gilt es zu entkommen.

Das Panorama einer nicht gerade freundlichen Klein­bürgergesellschaft ist mit autobiografischen Erfahrungen der ­Autorin grundiert.

Schnippisch und voll gegenseitiger Anteilnahme (heute würde man sagen „Empathie“) verhandeln die Geschwister, wie Rupert-Pertie für seine Karriere als Autor vorgehen müsse. Die kleine Schwester Luise: „Setz dich hin und schreib einen Roman. Wenn du Geld hast, bist du ein freier Mann und kannst in eine Gegend ziehen, wo vernünftigere Menschen wohnen. Hätte ich dein Talent, ich fände aus dieser Sackgasse heraus, und die Welt ließe sich von mir wie ein Ball jonglieren. Du nimmst deine Begabung gelangweilt zur Kenntnis und nützt sie nicht aus.“

Ferra-Mikura reflektiert in ihrem Buch en passant nicht nur das Entstehen des eigenen Buches, mit dem Auftritt der Redakteure, die sich als schnöselige Besucher im armseligen Hause Kleist zur Besprechung künftiger Pläne ihrer Zeitschrift Parallele einfinden, gelingt Ferra-Mikura eine amüsante Persiflage auf die Literatur- und Kulturszene der österreichischen Nachkriegsjahre. Man faselt von ästhetischer Revolution und fabuliert im Duktus des Phantastischen Realismus. Die Bodenhaftung, die ein Chefredakteur dem angehenden, über Ätherisches schreibenden Dichter Rupert nahelegt, erlebt dieser während eines Spazierganges an den „Strom“ in Gestalt eines proletarischen Fischers, der sein schwimmendes Domizil jungen Paaren als Liebesnest zur Verfügung stellt. Dort trifft der von Selbstzweifeln gequälte Schwerenöter, der noch nie mit einer Frau zusammen war, erstmals auf Leni, in die er sich blitzartig verliebt.

Vera Ferra-Mikura scheut kein Element saftiger Kolportage, um die verzwickte Lage ihrer Figuren in grellen Szenen darzulegen: Mit bösem Witz wird die vornehme Kundschaft des Warenhauses karikiert, in dem Luise als Verkäuferin arbeitet, bevor sie aus vorgeblich arbeitsrechtlichen Gründen zum Lauf­mädchen degradiert wird; dass sie, um zu einer eigenen Unterkunft zu kommen, Jungkünstlern Modell steht, spricht sich im Haus in der Sackgasse alsbald als Skandal herum. Vom arroganten Gehabe der Künstler­entourage abgestoßen, geht Schwester Fanny bei der Wahl ihres künftigen Partners vorsichtiger vor – sie ist denn auch die Einzige der drei Geschwister, der eine Art Happy End blüht. Über dem nächtlichen Verfassen eines Gedichts beobachtet Rupert seinerseits im Haus gegenüber eine Frau, die sich gerade auszieht – sein Besuch bei einer Prostituierten endet im Fiasko. Auchdie aufmunternden Reden seines Gesprächspartners Schwalbe (Vegetarier, Asket und Sozialist) bewahren ihn nicht vor dem psychischen Zusammenbruch. Allein die lebenshungrige Luise ereilt ein noch tragischeres Schicksal – von Helmut geschwängert und verlassen, verblutet sie an den Folgen der Abtreibung bei einer Engelmacherin.

Die komplex verwobenen Handlungsstränge von „Die Sackgasse“ mögen psychologisch nicht immer ganz überzeugend motiviert sein, umso deutlicher ist das von der Erzählerin der Toten in den Mund gelegte Vermächtnis an die Lebenden: „Liebt euch –“

Im Nachwort beschreibt der Literaturkritiker ­Peter Zimmermann auf höchst luzide Weise die Ästhetik des Romans und die Situation der österreichischen Nachkriegsliteratur, als deren fixen Bestandteil man künftig auch Vera Ferra-Mikuras „Die Sackgasse“ lesen sollte.

Die Sackgasse - © Verlag Milena
© Verlag Milena
Literatur

Die Sackgasse

Roman von Vera
Ferra-Mikura
Milena 2022
260 S., geb.,
€ 24,50

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