Wolken 10 11 - © Foto: Istock

„Fretten“ von Helena Adler: Kein Zuckerschlecken

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Helena Adler arbeitet sich in ihrem neuen Roman „Fretten“ radikal am tristen Landleben ab.

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Helena Adler arbeitet sich in ihrem neuen Roman „Fretten“ radikal am tristen Landleben ab.

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Auch wenn ihnen zweifellos an Kompetenz und Kreativität diesbezüglich kaum jemand das Wasser reichen kann, sudern können nicht nur die Wiener. Weiter im Westen in der bäuerlichen Provinz Salzburgs sudert man nicht weniger, nur etwas brutaler und ohne den Tonfall, in dem man mit ein bisschen gutem Willen so etwas wie Charme erkennen kann. Das ist kein Wunder, glaubt man Helena Adler, das Leben auf dem Land ist kein Zuckerschlecken. Da werden viele gelernte Österreicherinnen und Österreicher zustimmen, entweder aus eigener Erfahrung, oder weil sie zumindest vertraut sind mit der österreichischen Antiheimatliteratur von Bernhard bis Jelinek.

„Fretten“, wird einem da zu Beginn des neuen, gleichnamigen Romans erklärt (die Erklärung ist wohl mehr für das deutsche Publikum als für das österreichische gedacht), bedeutet „sich abmühen, sich plagen, mühsam über die Runden kommen, sich aufreiben, sich wund reiben“. Man könnte das auch als Warnung lesen: Achtung, da kommt etwas auf euch zu. Schimmel und Moder ziehen sich durch die Stadel und Stuben, es ist eine Welt des Verfalls, deren Grausigkeiten die Erzählerin mit Inbrunst ausschmückt. Körperliche, seelische und moralische Verwesungserscheinungen spiegeln sich in den Gebäuden, innen faulig, außen verwitternd sind die Menschen nicht mehr von ihren Häusern zu trennen.

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Schimmel und Moder ziehen sich durch die Stadel und Stuben, es ist eine Welt des Verfalls, die die Erzählerin mit Inbrunst ausschmückt.

Die Protagonistin und Erzählerin verweigert von Beginn an die Zugehörigkeit zu dieser ländlichen Welt, in die sie „fallengelassen, geworfen und niedergeschmettert“ wurde, aber nicht geboren. Ihr erster Akt des Protests ist Schweigen: „Schreie sind Lebensbejahung, doch ich hielt den Mund.“ Es wird nicht ihr letzter sein, und doch hilft alles nichts, weder die Familie noch das Milieu, in das man hineingeboren wird, kann man sich aussuchen. Sexuelle Gewalt an Frauen ist an der Tagesordnung, „bei uns gibt es nur Schürzenträger und Schürzenjäger, merk dir das“, sagt die Mutter zur Tochter, es ist eine nüchterne Feststellung. Frauen sind Freiwild, der Körper der Kellnerin ist laut Vorstellung der Kundschaft im Bierpreis inbegriffen. Die Erzählerin versucht auszubrechen aus diesen Mustern, sie schließt sich einer Gang der Verlorenen und Außenseiter an, die in Häuser einbrechen und die Salzburger Festspiele mit Schlachtabfällen fluten.

Wem das tendenziell bekannt vorkommt, der hat kein Déjà-vu, sondern vermutlich Adlers großartigen Vorgängerroman „Die Infantin trägt den Scheitel links“ (er ist nicht, wie allerorten zu lesen ist, ihr Debütroman) gelesen, der es 2020 hochverdient auf die Shortlist des Österreichischen und die Longlist des Deutschen Buchpreises schaffte. Noch einmal aufs Bewährte setzen zu wollen, das kann man dem Buch durchaus vorwerfen, und es irritiert anfangs auch etwas. Allerdings – und deshalb ist „Fretten“ auch für jene, die der „Infantin“ schon durch die verstörende österreichische Provinz gefolgt sind, lesenswert – ist der Roman sprachlich noch radikaler und originärer als sein Vorgänger, bleibt auch die Szenerie und Schlagrichtung dieselbe.

Helena Adler ist nicht nur Schriftstellerin, sie ist auch bildende Künstlerin, und das merkt man ihrem Werk an. Plot und Form interessieren sie weniger, Adler malt sprachliche Bilder, und das tut sie kompromisslos. Stillleben oder Idyllen sind nicht das ihre, ausufernde Szenen à la Breughel schon viel mehr. Nicht zufällig skizziert sie selbst die Welt in der „Infantin“, die auch die Welt von „Fretten“ ist, als Breughel-Gemälde, und dem bleibt sie hier treu. Wer wirft schon einem William Turner seine ewig gleichen Meer- und Landschaftsbilder vor, oder einer Georgia O’Keeffe die zwanzigste Blüte? Nicht der Rahmen und das Thema sind entscheidend, sondern die Ausgestaltung, die Details. Und die sind in Adlers neuem Roman stimmig und immer wieder erstaunlich.

Der Bruch im Buch kommt mit der Geburt des Sohnes, da verändert sich etwas, plötzlich steht man nicht mehr am Ende dieser von Traumata geplagten Ahnenreihe, plötzlich hat man selbst etwas weiterzugeben und zu verantworten. Das schlägt sich in der Sprache nieder, die nichts an Wildheit verliert, aber gleichzeitig an Reichtum gewinnt: Ein Du gilt es jetzt anzusprechen, das ist eine neue Dimension, die den Text noch einmal öffnet. Das kollektive Schlachtfeld des Landlebens weicht narrativ dem individuellen der Mutterschaft: Die Liebe zum Kind ist groß, trotzdem muss sich die Erzählerin erst einmal ein „Mutterkostüm“ überziehen. Nicht nur die Ansprüche der Gesellschaft machen das Muttersein zum Gfrett. Spätestens jetzt wechselt Adler Breughel aus und greift zum Bildgeber Kubin. Das unüberschaubare, auf viele Szenen ausgedehnte Grauen weicht dem albtraumhaften Horror einer Figur, in der das große Ganze nur noch im schreckensverzerrten Gesicht sichtbar wird. Die Wucht an negativen Bildern ist auf Dauer etwas viel, aber der Titel will ja erfüllt sein, und das Fretten lohnt sich am Schluss.

Fretten - © Foto: Jung und Jung
© Foto: Jung und Jung
Literatur

Fretten

Roman von Helena Adler
Jung und Jung 2022
177 S., geb., € 22,–

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