Elfriede Jelinek - © Foto: picturedesk.com / brandstaetter images / Otto Breicha

Elfriede Jelinek: Ein Brief

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Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek wandte sich vor über 50 Jahren an die Österreichische Gesellschaft für Literatur: „Und zwar um bestätigt (oder weggesperrt) zu werden, daß ich als Schriftstellerin bestehen, also eine Auferstehung aus mir selbst gelingen könnte.“ In der FURCHE erzählt sie davon.

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Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek wandte sich vor über 50 Jahren an die Österreichische Gesellschaft für Literatur: „Und zwar um bestätigt (oder weggesperrt) zu werden, daß ich als Schriftstellerin bestehen, also eine Auferstehung aus mir selbst gelingen könnte.“ In der FURCHE erzählt sie davon.

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Die Gesellschaft für Literatur ist mir, vor mehr als einem halben Jahrhundert, als einzige Institution erschienen, an die ich mich wenden konnte. Und zwar um bestätigt (oder weggesperrt) zu werden, daß ich als Schriftstellerin bestehen, also eine Auferstehung aus mir selbst gelingen könnte. Ich habe dann ein Sortiment meiner sehr epigonalen Gedichte an Otto Breicha geschickt, der damals für die Literatur in dieser Gesellschaft tätig gewesen ist. Von ihm, der mir als einzige zugängliche Instanz erschienen war (eine andre hatte ich im Telefonbuch nicht gefunden), in dieser Gesellschaft also, die sich ja zum Ziel gesetzt hatte, für die Literatur zu sein – ganz meine Meinung, ich auch, das war auch mein eigenes Ziel, jawohl!, nur sollte es das richtige Ziel sein. Von Otto Breicha, dem Türhüter vor dem Gesetz, also erwartete ich mir viel, ja, alles. Daß ich einen Fuß in die Tür der Literatur bekommen könnte, statt die Tür auf den Fuß geknallt zu kriegen, ob Otto Breicha von der Gesellschaft für Literatur finden würde, daß einen Wert besitze, was ich da geschrieben hatte. Bei diesen Sachen ist es so: Je mehr man hineinwill, desto weniger lassen einen die Türhüter. Otto Breicha hat dann aber gesagt, ich solle nur machen.

Daß ich mit Sprache also aus mir heraustreten würde können, das hatte er mir zugetraut. Ich verdanke ihm also alles.

Ich habe dann einen Brief von ihm bekommen (ich sehe heute noch unseren kleinen Briefkasten vor unserer alten Stadtwohnung im 8. Bezirk vor mir, er hatte ein noch kleineres Gitter, und durch dieses Gitter sah man gleich, ob Post da war, ein seltenes Ereignis, meine Familie und ich haben damals schon sehr einsiedlerisch gelebt, mit wenigen Freunden, Telefon hatten wir auch keins, und so war das Weiße, das durchs Gitter schimmerte, schon etwas besonderes), und der Brief war also von Otto Breicha, und er hat mich damals in die Gesellschaft für Literatur eingeladen, weil er mich für begabt hielt und mit mir darüber sprechen würde, ob ich aus dieser Begabung nicht etwas mehr herausreißen könnte als mich selbst. Daß ich mit Sprache also aus mir heraustreten würde können, das hatte er mir zugetraut. Ich verdanke ihm also alles. Und so habe ich ihn besucht, in diesem schönen Palais oder was es ist, ein Schritt in die Wirklichkeit hinein und gleichzeitig aus ihr heraus, denn gegen die Wirklichkeit wollte ich mich stemmen.

Oder sie aufstemmen, um ihr etwas aufzuzwingen, was zuvor noch niemand gesehen oder getan hätte. Ich war nie sehr in der Wirklichkeit verankert, aber jetzt hatte ich, mit Otto Breichas Hilfe, eine gewisse Sicherheit (wenn der das sagt, dann muß was dran sein. Er arbeitet schließlich in der Gesellschaft für Literatur!), daß ich mit meinem Schraubenzieher die Befestigung der Wirklichkeit lockern und mich hineindrängen könnte. Entweder fällt die Wirklichkeit dann ganz herunter und wird für mich unerreichbar, oder ich kann mich irgendwie, irgendwo dort hineinzwängen und finde auch noch Platz neben allem anderen. Zu spät habe ich bemerkt, daß das die Wirklichkeit gar nicht war, in die ich mich hineingezwängt hatte, sondern etwas anderes, das mich nicht mehr losgelassen hat. Wenn die Wirklichkeit mich nicht will, dann mache ich mir halt meine eigene. Ich konnte schon damals aufgrund einer psychischen Erkrankung kaum das Haus verlassen. Die Wirklichkeit und ich, wir wären, hätten wir uns zufällig getroffen, grußlos aneinander vorbeigegangen, weil ich sie gar nicht erkannt hätte. Das ist leider bis heute so geblieben.

Aber solche Befindlichkeiten waren Otto Breicha wurscht. Wir haben einfach geredet. Ich durfte dort sitzen und mit ihm über Literatur reden, und danach wurde ich wieder nach Hause transportiert, das aber ein andres Zuhause geworden war und nie mehr das sein würde, aus dem ich gekommen war. Das verdanke ich Otto Breicha aus der Gesellschaft für Literatur. Ihn können Sie nicht mehr zur Verantwortung ziehen, er ist leider gestorben. Ich erinnere mich noch an das allerletzte Mal, als ich dort war. Da haben wir seinen Abschied, auch von der wunderbaren Zeitschrift „protokolle“, nein, nicht gefeiert, sondern beweint.

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In dieser Zeitschrift, in der die wichtigsten Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die wichtigsten Bildenden Künstlerinnen und Künstler mit ihren Werken oder die Dichter mit ihren Texten herausgestellt wurden – auch meine sind mit reingekommen, so zuvorkommend war der Türhüter, daß er mir sogar die Tür zu den „protokollen“, die ich wahrscheinlich sonst nicht gefunden hätte, aufgehalten hat –, in dieser Zeitschrift also hatte ich meine allererste Publikation, zuerst eine vermischte Sammlung von Gedichten und zuletzt einen Essay zu Bruno Gironcoli, den ich für einen Katalog hätte schreiben sollen und der dem Künstler nicht gefallen hatte. Otto Breicha hat ihn abgedruckt. Die Tür ins Leben war es nicht, aber immerhin dorthin, wo es protokolliert wird. Auch nicht schlecht. Es waren damals nur wenige zu diesem Abschied gekommen, Jandl und Mayröcker, an sie erinnere ich mich, obwohl so viele Otto Breicha noch mehr, fast alles verdankt haben. Es hat ihn mit Bitterkeit erfüllt, daß fast nur SchriftstellerInnen, nicht aber Künstler da waren, die, wie er sagte: „doch so viel mehr verdienen als die Dichter“.

Doch wir hatten es verdient, dort zu sein. Die „protokolle“ wurden eingestellt, ein Jammer, bis heute. Nur heute treffen die „unterdrückten Rufe nach Begehrenswürdigkeiten in Sachen Kultur“, spricht Robert Walser, keiner kann etwas besser sagen als er, deswegen zitiere ich ihn so gern, Rufe, die ins Herz der Sehnsucht treffen, Herz, was willst du mehr, „ich will Bedeutung und Anerkennung, spricht das Herz“; alles, das mir sowas herbeischafft, ich will ja vielen, womöglich allen Menschen etwas bringen und nichts für mich und bei mir behalten, ist mir willkommen. Und die andre Seite, die Verleger, Bühnen, Filmproduzenten sagen genau dasselbe genauso von sich, auch sie warten auf epochemachende Werke. Ich war bereit.

Meine erste Lesung in der Gesellschaft für Literatur hatte ich mit Gert Jonke, ich hoffe, ich erinnere mich richtig, ich habe ihn damals kennengelernt. Und auch meine Lebensfreundin Elfriede Gerstl, die im Publikum saß. Ich kann mich da täuschen, doch es gibt Aufzeichnungen über unsere Aufschreibungen, und die sagen es uns. Das ist die Wirklichkeit. Noch einmal Robert Walser, mein Gott (er ist der Gott von so vielen, nachdem er im Leben buchstäblich nichts und niemand war. Ein ziemlicher Karrieresprung, oder?), nein, nicht: mein Gott!, er ist mein Gott und mein Abgott, der alles hat, und er sagt ja auch, das Herz betreffend: „Hat einer nicht den Mut, etwas zu haben, so hat er nichts.“ Und etwas weiter: „Wie komisch istʼs, wenn Städte irgendwo unentdeckt vorhanden sind.“ Ja. Ich bin von Otto Breicha in der Gesellschaft für Literatur entdeckt worden, meine innere Stadt zu eröffnen. Die Zeit hat einiges herbeigeführt, Otto Breicha hat das mit meinem Erwachen getan. Beeilen kann man sich mit sowas nicht, es nützt nichts, angefeuert oder vernichtet zu werden (im Schreiben), und all dies Angeherrsche oder Beschimpfe, all die Antreibereien, Er- und Entmutigungen nützen nichts, wenn der Betreffende (wie Walser sagt, meist ist es aber ein Betroffener, fürchte ich, und der will dann auch noch, daß diejenigen ebenfalls betroffen sind, die ihn lesen) sein Erwachen nicht selbst herbeiführt. Okay. Ich hatte Hilfe bei meinem, das gebe ich zu, sogar hier habe ich mir ja die eines ganz Großen gesucht.

Siehe auch Robert Walser: Aus dem Bleistiftgebiet, Mikrogramme aus den Jahren 1925- 1932, Frankfurt am Main 2000.

Fakt

Österreichische Gesellschaft für Literatur

2022 feierte die Österreichische Gesellschaft für Literatur ihr 60-jähriges Bestehen. Neben Veranstaltungen, in denen die eigene Geschichte, zentrale Aktivitäten, berühmte Gäste und vieles mehr thematisiert wurden, entstand die Idee zu einer ganz besonderen Publikation: Zahlreiche Wegbegleiterinnen und -begleiter aus unterschiedlichsten Bereichen der literarischen Welt wurden gebeten, kurze Texte zu verfassen, die die eigene Beziehung zur Literaturgesellschaft, den ersten Auftritt oder andere zentrale Erinnerungen thematisieren sollten. Aus den zahlreichen Antworten wird ein Buch entstehen – Elfriede Jelineks Text über die Anfänge ihres Schreibens und weitere kurze Textsplitter geben einen Vorgeschmack. Sie werfen Schlaglichter auf die ersten Jahrzehnte einer Institution, die bis heute zu den aktivsten im österreichischen Literaturbetrieb gehört. (Manfred Müller)

Österreichische Gesellschaft für Literatur
Palais Wilczek, Herrengasse 5, Stiege 1, 2. Stock
1010 Wien. www.ogl.at

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