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„Der Nachlass“ von Evelyn Grill: Gefährlich sind die Zeiten für alte Frauen

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Evelyn Grills Roman „Der Nachlass“ ist eine literarische Widerrede gegen den verordneten Schutz in Coronazeiten.

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Evelyn Grills Roman „Der Nachlass“ ist eine literarische Widerrede gegen den verordneten Schutz in Coronazeiten.

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„Es hieß plötzlich, sie sollte geschützt werden. Ihr Leben sei in Gefahr, sobald sie sich auf die Straße und zum Einkaufen begebe. Andere Menschen, der Mensch an sich, sei für sie eine Bedrohung.“ Die Nachbarin erklärt sich bereit, für sie einzukaufen, sie solle ihre Wünsche auf einen Zettel schreiben. Und in den Gratiszeitungen vor ihrer Wohnungstüre erfährt sie von den Gefährdungen, die auf sie lauern, und darüber hinaus sei auch sie eine Gefahr für ihre Umwelt. Denn schließlich sei sie alt und „eine Vulnerable“.

Gewohnt schonungs- und mitleidlos erzählt Evelyn Grill in ihrem jüngsten Buch „Der Nachlass“ von einer beinahe achtzigjährigen alten Frau, die ihren Geburtstag am 15. Jänner nicht nur mit ihrem „Dichtergott“ Franz Grillparzer gemeinsam hat, sondern auch mit der Autorin selbst. Selbstironisch stellt die alte Frau im Rückblick fest, dass sie den „Armen Spielmann“ als Jugendliche las, „wie sie eine ungeliebte, aber gesunde Karfiolsuppe verzehrte“.

Für allein lebende alte Menschen beschränkte sich der Lebensraum über die ersten Coronamonate hinweg auf die eigene Wohnung, mit dem Fernseher als Trost. Die Protagonistin ist ja gerne allein, aber manchmal „ist das Alleinsein auch für sie zu viel“. Dabei gibt es immer viel zu tun in der gemütlichen Wohnung, zumal die „Putzhilfe nicht mehr kommen darf, um sie nicht anzustecken, oder umgekehrt“. Schließlich kann sich ein Gefährdeter „unversehens in einen Gefährder verwandeln“. Zum Luftschnappen ist es erlaubt, ins Freie zu gehen, zum Beispiel kann sie auf ihrem Balkon „vier Schritte in der Länge und zwei Schritte in der Breite“ machen. Auch an der Donau kann man spazieren gehen, allerdings nur mit dem ungeliebten Mund-Nasen-Schutz. Lakonisch stellt sie fest, dass sie im harten Lockdown weder einen Hut noch Schuhe oder Bücher kaufen kann. „Wenn sie hingegen einen Revolver kaufen wollte, dann bekäme sie den mit ausführlicher Beratung. Statt eines Buches ein Gewehr. Es sind offenbar gefährliche Zeiten.“ Gefährlich sind die Zeiten für alte Frauen, die nicht nur allein sind, sondern die der vermeintliche Schutz depressiv und einsam macht. Der Rat des Neurologen, dass sie das Tief doch „durchtauchen“ könne, gefällt ihr und ermuntert sie zu zahlreichen Überlegungen zu diesem Wort. „Es gibt in der Sprache immer etwas zu hinterfragen“, heißt es an einer Stelle, und Evelyn Grill macht es mit besonderer Schärfe, etwa wenn sie Worte wie Absonderung, Aussonderung und Entsorgung hinterfragt. Und wie in allen ihren Büchern seziert sie nüchtern die Geschlechterverhältnisse, wenn sie beispielsweise feststellt: „Die Freundin arbeitet im Homeoffice, doch nicht als Köchin, sondern als Ehefrau.“

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