Leben im wenig süßen Land

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Neues aus dem Land der beschränkten Möglichkeiten: E. L. Doctorows "Sweet Land Stories" und John Updikes "Landleben".

City of God" schrieb der Amerikaner E. L. Doctorow, als das World Trade Center noch stand. "De Civitate Dei" (Gottesstaat), das Werk von Augustinus, bildete Titel und Vorlage für diesen polyphonen New York-Roman, der religiöse, naturwissenschaftliche, erkenntnistheoretische, philosophische Weltanschauungen und mit ihnen die Geschichte der so genannten Zivilisation diskutierte, schön postmodern in Vorträgen, E-Mails, theoretischen Abhandlungen, Essays, Erzähltem, Poetischem, Liedern und Drehbuchentwürfen. Die Liebesgeschichte zwischen der Rabbinerin Sarah und dem anglikanischen Priester Tom Pemberton konfrontierte die Religionen. Das wesentliche, die literarischen Versatzstücke und Geschichten begleitende Motiv: der Zweifel. Feste Überzeugungen führen zum Töten. Für diese Erkenntnis muss man nun nicht mehr auf die Gräueltaten des 20. Jahrhundert blicken. Es reicht der Blick in die Welt von heute.

Babyraub und Betrug

Wer die Wartezeit auf die deutsche Übersetzung von Doctorows Roman "The March" überbrücken will, für den gibt es nun eine Sammlung von fünf Stories, die in Amerika bereits 2004 erschienen sind: "Sweet Land Stories". Wer vermutet, dass die darin beschriebenen Landgeschichten so süß nicht sind, und das Land schon gar nicht, der liegt richtig. Ironie? Mag sein. Ironie spaziert durch die Texte, in denen Moral und Ethik keineswegs verlässlich gekennzeichnete Wege garantieren. Auffälliger und spezifischer aber ist der lakonische Stil, mit dem der Autor das amerikanische Leben der Gegenwart auf die literarische Schaufel nimmt. Fast selbstverständlich und ohne moralische Wertung passiert, was passiert: Babyraub, Betrug, Mord.

Oder Misshandlungen wie in "Jolene: ein Leben". "Sie heiratete Mickey Holler, als sie fünfzehn war. Um aus ihrer letzten Pflegefamilie fortzukommen, wo ihr so genannter Dad sie immer befummelte und sie ihn umarmen sollte, solche Sachen eben. Sogar bereits vor ihrer ersten Periode. Und ihre Pflegemutter schlug sie gern auf den Kopf. Ohne Grund. Oder aus jedem Grund. Also heiratete sie Mickey." Und das Ende des ersten Kapitels ihrer Lebensgeschichte? "[...] Mickey fuhr zur Mitte der Brücke über den Catawba River, und dort hielt er und sprang, während der Motor noch lief, in diesen steinigen Fluss hinab und brachte sich um." So kommt es, wie es kommen muss: "Dass Jolene unglücklich war, wurde normal." Und später "wurde sie langsam zu einer gewohnheitsmäßig misshandelten Frau".

Dass die Figuren sich häufig in der amerikanischen Wüste wiederfinden, kann da nicht mehr wundern: "So ändert sich das Leben, wie der Blitz einschlägt, und binnen einer Sekunde ist das, was war, nicht mehr das, was ist, und auf einmal merkt man, dass man auf einem Felsbrocken am Wüstenrand hockt und hofft, irgendein Bus werde vorbeikommen und sich erbarmen, bevor man dort tot aufgefunden wird wie andere unter die Räder geratene Geschöpfe".

Unter die Räder geraten

Zu Doctorows Figurenkabinett gehört die Babydiebin ebenso wie das Sektenmitglied, das nicht einmal durch das Verschwinden des Anführers mit seiner eigenen Ehefrau zum Zweifeln gebracht werden kann, und die Oberaufrichtigen in den Bibelstaaten. "Sie mochten noch so reich sein und überall auf der Welt hochkomplizierte Geschäfte abwickeln, aber sie glaubten wahrhaft an Gottes geschriebenes Wort, ohne Wenn und Aber, ohne Einerseits und Andererseits. Anscheinend eine unschlagbare Kombination, wenn auch ein bisschen eigenartig, als würden sie mit einem Fuß in der Vorstandssitzung und einem im Himmel stehen."

Welcher rote Faden zieht sich durch die Geschichten? Die Gegensätze von dem, was gelebt, und dem, was erträumt wird - sie formen sich in Sätze: "[...] für mich war Chicago mit seinen prächtigen Hotels, den Restaurants, den gepflasterten, baumgesäumten Alleen mit den großen Villen der einzige Ort, wo es sich zu leben lohnte. Natürlich war nicht ganz Chicago so. Von unseren Fenstern im zweiten Stock aus hatten wir keine großartige Aussicht, wir schauten nur auf die Häuserreihe mit den Pensionen gegenüber."

Ausbrechen, auswandern

Unter die Haut gehen die gescheiterten Lebensentwürfe - nein, dieser Ausdruck setzt voraus, dass jemand die Möglichkeit hatte, sein Leben selbst zu entwerfen. Diese aber scheint es in Doctorows Geschichten selten zu geben. Aktion ist oft bloß Reaktion: ausbrechen oder auswandern. Etwa nach Alaska: "Die meisten Leute, die hier leben, passen aus diesem oder jenem Grund nicht so ganz ins Herz der USA, und darum stellt einem auch keiner allzu viele Fragen. Fast alle, die mir begegnet sind, haben anscheinend persönlich große Pläne, und das verstehe ich sehr gut." Keine Möglichkeiten auf eigene Lebensentwürfe im Land der unbeschränkten Möglichkeiten?

Der amerikanische Traum, sich selbst sein Glück zu schmieden bleibt für viele das, was er ist: Traum. Aus der Unmöglichkeit, in rechten Bahnen das Geträumte zu verwirklichen, resultiert auch das Verbrechen. Und insofern wird die Überlegung des FBI-Beamten zu einem Schlüsselsatz, der, "aus welchen Motiven auch immer, sein Leben lang abweichendes Verhalten bekämpft hatte, ohne sich zu fragen, ob dieses Verhalten nicht in manchen Fällen aus gutem Grund geschah".

Doctorow schreibt aber keine Thriller - nicht einmal jene FBI-Affäre um das tote Kind im Rosengarten des Weißen Hauses dient dazu. Und der Leser der Geschichte "Ein Haus in der Ebene" ahnt zwar bald die Morde, die Mutter und Sohn an betuchten alleinstehenden Einwanderern begehen. Der zweite Blick führt dann aber in Abgründe, die weiter reichen als nur in den Brunnenschacht, wo eine mit Ätzkalk bestreute Leiche liegt. Der Sohn und Ich-Erzähler ärgert sich über Schwachkopf Bent. Denn dieser hatte offensichtlich "nie gelernt, dass der Sinn des Lebens darin besteht, die eigene Stellung zu verbessern." Hier denkt ein Mörder den amerikanischen Traum. "Diese Idee war ihm nicht zugänglich. Was man nun einmal war, das würde man immer bleiben. Also sah er in diesen Fremden, die noch nicht einmal richtig reden konnten, nicht nur Eindringlinge, sondern Leute, die ein schlechtes Licht auf sein Dasein warfen. [...] Durch seinen dicken Schädel sicherte gerade eben die Ahnung der Erkenntnis, dass ein simpler Ausländer bessere Aussichten hatte als er. Wenn ich also mit einem von ihnen im Buggy von der Station zurückkam und der Kerl beim Aussteigen in seinem Tweedanzug, mit seiner Schleife und seinem Bowler als ein Mann mit gewissen Mitteln zu erkennen war, dann stand der arme Bent auf einmal im Schatten und fröstelte, als sei eine dunkle Wolke aufgezogen, und er begriff nur, dass es für ihn zu spät war - dass es für alles zu spät war, meine ich.

Wie dumm er war, das erwies sich letztlich darin, dass er noch etwas nicht begriff. Dass auch für die Fremden alles zu spät war."

Kleinstadtsexaffären

Koboldhafte Aufsässigkeit schrieb John Updike seinem Schriftstellerkollegen im "New Yorker" zu, in dem einst einige der Stories erschienen sind. Doctorow habe seinen "Sweet Land Stories", so Updike, Mörderisches und Makaberes injiziert. Weniger makaber denn genitalfixiert geht es in Updikes jüngst am deutschen Buchmarkt erschienenen Roman zu, der ebenfalls auf das amerikanische "Landleben" (im Original auf "Villages", also Kleinstädte) blinzelt. Auch Updikes Amerika ist ein Land, in dem sich nur die Reichen die alten Strukturen leisten können, "die uns von der Wiege bis zum Grab tragen, wohlgenährt, gut gekleidet und geachtet". Ansonsten ist Updike aber weniger von Politik denn - wie fast immer - vom Sex fasziniert. Seine Kleinstadtchronik ist eine Kleinstadtsexaffärenchronik.

Middle Falls etwa wird durch den männlichen Protagonisten folgendermaßen kartografiert: "In dem einen Haus wohnte eine Frau, mit der er geschlafen hatte, in einem anderen wohnte eine Frau, von der er sich in seinen Phantasien vorstellte, dass er mit ihr schlief [...]"

Roter Faden Sex

Der rote Faden in Owen Mackenzies inzwischen schon sieben Jahrzehnte dauernden Leben ist Sex mit den unterschiedlichsten Frauen. Das Alter bleibt freilich nicht ohne (hindernde) Auswirkungen auf sein Sexualleben. Doch zum Glück gibt es Erinnerungen, und die schieben sich in Kleinstadt-Sex-Kapiteln ein. Über die unterschiedlichsten Praktiken erfährt man einiges, da bleibt Updike dem Leser keine Phantasie schuldig. Am Ende taucht so etwas wie Schuld auf, zumindest viele Gedanken, auch Ängste in schlaflosen Nächten. Owens erste Frau Phyllis, einst eine der wenigen Studentinnen am MIT, hat ihre Karriere fürs Kinderkriegen geopfert und kam als von Owen verlassene Frau durch einen Autounfall ums Leben. Ein bitterer Nachgeschmack im sonst harmonischen Leben, in dem Owen beschimpft wird von Ehefrau Julia, weil er nicht über dem Spülbecken isst, sondern auf den Boden bröselt. Dabei waren doch gerade die Putzfrauen da. Ein Ehe-Roman also auch. Und einer über das Altwerden eines Mannes. Und nebstbei die Geschichte der Entwicklung des Computers. Und des Landes, etwa des zunehmenden materiellen Wohlstandes und seiner ideologischen Bedeutung: "Wenn man eine Familie gründete, Kinder bekam und einkaufte, versetzte man damit unserem Feind, diesen hölzernen, repressiven Antikapitalisten hinter dem Eisernen Vorhang, einen Schlag."

Ja, Updike wäre nicht Updike, wenn er nicht nur das häufige Kopulieren in Sprache brächte, sondern auch Nachdenkliches zu Religion und Lebensphilosophie, Beobachtungen, die in ihrer Hellsichtigkeit und Treffsicherheit faszinieren bis zum letzten Absatz. "Es ist eine verrückte Sache, am Leben zu sein. Kleinstädte sind dazu da, diese Verrücktheit zu mäßigen - sie vor Kindern zu verbergen, sie zum privaten Gebrauch in die Flaschen abzufüllen, ihre Imperative sanft in Gewohnheiten umzumodeln, uns vor dem Dunkel draußen und dem Dunkel drinnen zu schützen."

Sweet Land Stories

Von E. L. Doctorow

Aus d. Engl. v. Angela Praesent

Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2006. 187 Seiten, geb., e 18.40

Landleben

Roman von John Updike

Dtsch. v. Helmut Frielinghaus u. Susanne Höbel. Rowohlt Verlag, Reinbek 2006. 413 Seiten, geb., e 20,50

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