„Daheim“: Der schwere Duft der Oklahomarosen
Der neue Roman der Berliner Schriftstellerin Judith Hermann erzählt von Entwurzelung und der Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Die melancholische Landschaft des Wattenmeeres bildet dafür den idealen Hintergrund.
Der neue Roman der Berliner Schriftstellerin Judith Hermann erzählt von Entwurzelung und der Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Die melancholische Landschaft des Wattenmeeres bildet dafür den idealen Hintergrund.
Fließbandarbeit in einer Tabakfabrik, bei Höllenlärm und Hitze: Die junge Frau sieht es pragmatisch. Sie hat nicht vor, ihr Leben da zu verbringen. Kein Ort zum Bleiben ist auch ihre „Einraumwohnung“ im Neubaugebiet einer Kleinstadt, an einer Ausfallstraße. Von ihrem Balkon beobachtet sie gern die Tankstelle gegenüber und stellt sich vor, dass alle die Kunden „wirklich weit weg wollten, Leute auf der Durchreise“. Sie, das ist die namenlose Ich-Erzählerin von Judith Hermanns Roman „Daheim“. Im Shop der Tankstelle wird sie eines Tages von einem bizarren alten Mann angesprochen. Er ist Zauberer, präsentiert seine Show auf einem Kreuzfahrtschiff und sucht eine neue „Assistentin zum Zersägen“. Beseelt von einem Urvertrauen ins Dasein, wagt die 17-Jährige die Probe, trifft die nötigen Reisevorkehrungen – und ...
Die Berliner Schriftstellerin Judith Hermann hat mit dem Erzählband „Sommerhaus, später“ 1998 den Durchbruch geschafft. Ihre Tonlage wurde prägend für eine Reihe von Autorinnen, etwa für Jenny Erpenbeck oder Juli Zeh. Das literarische Universum von Judith Hermann wirkt nüchtern, entzaubert. In knappen, einfachen Sätzen und mit bestrickender Lakonie entwirft sie Figuren und Szenarien von äußerster Prägnanz. Alles scheint manifest, doch der Schein trügt. Das Alltägliche kippt ins Metaphorische, die Natur ist ein mehrdeutiger Seelenspiegel, und in den Worten schwingt stets ein Ungesagtes mit. Hermann ist eine Meisterin des Doppelbödigen. Und über den Szenerien weht ein Hauch von Melancholie. Auch in ihrem neuen Buch mit dem programmatischen Titel „Daheim“: „Aus den Oklahomarosen steigt ein Duft auf, der erdig ist, anders als der Duft im Juni, angefüllt mit etwas, schwer von der Zeit.“
An der Nordsee
Die Episode mit dem Magier wird im Rückblick, aus der Distanz von 30 Jahren erzählt. Sie bildet den Auftakt zum Roman. Wir finden die einstige Fabriksarbeiterin in einem Dorf an der Nordsee wieder, wo auch ihr Bruder lebt. Sie hat ihren Mann, einen notorischen Prepper, verlassen, hält mit ihm aber Briefkontakt. Auch die gemeinsame Tochter hat das Weite gesucht; sie schippert durch die Nordsee und schickt ihre Koordinaten heim; ihre Chats mit der Mutter zeugen von mäßigem Mitteilungsdrang.
Im Unterschied zu den anderen Figuren bleibt die Erzählerin namenlos. Sie hat ein Haus am Wattenmeer gemietet und hilft in der Kneipe ihres Bruders Sascha aus. Der geht auf die sechzig zu und ist der blutjungen Nike verfallen, einem vogelfreien, mystischen Wesen mit „glühendem“ Haar, das ein tragisches Ende findet. Das krasse Gegenbild zu Nike verkörpert Mimi, die geerdete Tochter des lokalen Schweinegroßbauern. Auch sie war dereinst mit Sascha liiert. Nach drei Ehen und vielen Jahren in der Ferne ist sie nun „gut zufrieden“ heimgekehrt und widmet sich ihrer Kunst. Sie legt ihre Leinwände in den Schlick, lässt sie von den Gezeiten überspülen und gestaltet aus, was hängen bleibt. Sie lebt im Nachbarhaus der Erzählerin, freundet sich mit dieser an und stellt sie ihrem geschiedenen Bruder Arild vor – der Beginn einer Affäre ohne große Worte, ohne jede Romantik.
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