Carolina Schutti: Untiefen und Krater
Carolina Schutti kann Sprache zum Flimmern und Flirren bringen. In ihrem vieldeutigen Roman „Der Himmel ist ein kleiner Kreis“ entspinnt sich ein poetologisches Spiel um Freiheit und Identität.
Carolina Schutti kann Sprache zum Flimmern und Flirren bringen. In ihrem vieldeutigen Roman „Der Himmel ist ein kleiner Kreis“ entspinnt sich ein poetologisches Spiel um Freiheit und Identität.
Sie sei im Festsitzen geübt, sagt Ina, Protagonistin in Carolina Schuttis vor Kurzem im Droschl-Verlag erschienenem Roman „Der Himmel ist ein kleiner Kreis“, zu Boris, der sie in seinem Lkw zur berüchtigten sibirischen Winterstraße mitnimmt, wo Ina eine Raststätte eröffnen möchte. Doch davor gilt es auszuharren. Denn Boris hat sie in einem aufgelassenen Bergwerk zurückgelassen mit dem Auftrag, dieses zu bewachen, bis er wieder zurück ist. Doch kommt er je zurück?
Ina schreitet jeden Tag das schmale, umgrenzte Gelände zwischen Werksgebäuden und Wachtürmen ab, notiert fein säuberlich die nicht vorkommenden Vorkommnisse. Sperrt sich selbst in der von der Wildnis rundum abgeschlossenen Welt ein. Der Wintereinbruch steht vor der Tür, die Kekse werden härter, die Teevorräte reichen für eineinhalb Jahre, rechnet Ina nach. Als es zu schneien beginnt und die Lufttemperaturen sinken, sodass der Atem in riesigen Wolken vor dem Mund gefriert, wuchern die klaustrophobischen Zustände, die Ängste, in dieser Einöde verlassen zugrunde zu gehen, immer tiefer in Ina hinein. Im Festsitzen geübt ist auch die zweite Protagonistin des Romans, die namenlose Ich-Erzählerin, die den Leserinnen und Lesern aus dem Text „Nadjeschda“ bekannt vorkommen wird, den Carolina Schutti 2020 bei den Tagen der Deutschsprachigen Literatur vortrug.
Deren Stimme kommt aus einer Anstalt, in der sie „erzählen“ soll, Worte finden für die unerklärlichen Wutausbrüche, die sie immer wieder überkommen. Ihre Selbstermächtigung liegt aber in der Verweigerung und in den destruktiven Ausbrüchen, die sehr oft, hart und unerbittlich gegen sie selbst gerichtet sind. Denn auch die Autoaggression ist ihr eine Möglichkeit, sich gegen die Zurichtungen und Zumutungen der „Welt draußen“ zu wehren. Sie ist vor dem Erzählen auf der Hut, schlägt Haken, um nicht den Tücken und Fallen einer ausgereizten Sprache anheimzufallen. Soweit der Plot der Erzählung, doch da ist viel mehr. Denn im Text sind zahlreiche Fährten verborgen, die die Autorin auslegt, um die Lesenden in der Sicherheit des Gelesenen aufzustören, ihnen die Fragilität der Eindeutigkeit bewusst zu machen und die Entscheidung über die Lesart zu überantworten. Eine Freiheit, die sich formal den Kontrollzwängen und Zurichtungsmechanismen entgegenstemmt, um die es inhaltlich geht, und die dem Text eine unendlich weite, rätselhaft schöne, an manchen Stellen gar unheimliche Dimension verleiht; eine Freiheit, über die die Protagonistinnen im Gegensatz dazu jedoch nicht verfügen.
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