Reise ins Innere
FOKUS„Minihorror“ von Barbi Marković: Disney-Taschenbuch trifft auf Horrorstory
Barbi Marković hüllt in ihrem Roman „Minihorror“ die gesellschaftlichen Abgründe und Zumutungen des Lebens in eine comicartige Welt.
Barbi Marković hüllt in ihrem Roman „Minihorror“ die gesellschaftlichen Abgründe und Zumutungen des Lebens in eine comicartige Welt.
Micky-Mouse-Ohren prangen über den I-Punkten des Titels „Minihorror“ auf dem knallbunten Cover – und diese Kombination gibt die Tonart des neuen Romans von Barbi Marković vor. Disney-Taschenbuch triff t auf Horrorstory, so könnte man das Konzept beschreiben, das die Autorin für ihren neuen Text gewählt hat, eine Art spielerischer Episodenroman versetzt mit Comic-Elementen. Im Mittelpunkt steht das Pärchen Miki und Mini und ihr Alltag, der nur auf den ersten Blick harmlos erscheint. In kurzen, nur lose verbundenen Geschichten passieren den beiden grauenhafte Dinge, mal entpuppt sich Cousine Jennifer als zähnefletschendes, menschenfressendes Monster, mal überwuchern Schimmel und Schädlinge die ganze Wohnung, ein anderes Mal wird Mini beim Heimatbesuch in Belgrad von der eigenen Familie lebendig begraben.
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Einige Geschichten sind als Verweis auf Meister des literarischen Horrors zu verstehen. So gibt es kafkaeske Szenen und solche, die an Edgar Allen Poe oder Patricia Highsmith erinnern. Besonders witzig ist die Geschichte „Firmenausflug Sonnengott“, die auf eine bekannte österreichische Bio-Wohlfühl-Firma anspielt und einen Besuch auf dem Firmengelände in einen amüsanten Horrortrip à la Roald Dahls „Charlie und die Schokoladenfabrik“ verwandelt.
Vom Stil her erinnern die Geschichten an kurze „X-Factor“ oder „Black-Mirror“-Episoden. In der Serie „Black Mirror“ werden die Gefahren von ins Perverse gekippten technischen Neuerungen dargestellt; in „Minihorror“ liegt der Horror in sozialen und kulturellen Phänomenen. In der Übertreibung und Zuspitzung werden gesellschaftliche Abgründe sichtbar, aber auch die Zumutungen des Lebens, denen man nicht entkommen kann; etwa in einer Geschichte, in der Mini mit ihrer dahinsiechenden Großmutter konfrontiert ist. Horror ist traditionell ein Genre, das eng mit individuellen und kollektiven psychologischen Fragen verbunden ist.
Sag mir, wovor du dich fürchtest, und ich sage dir, wer du bist. So kann man sich auch hier beim Lesen fragen, welche Horrorvorstellung einem selbst besonders zusetzt. Während man etwa über die Geschichte mit der fleischfressenden Cousine laut lachen kann, zieht Marković in der als Kampf inszenierten Familiengeschichte gekonnt ein anderes Register. Es ist eine kafkaeske Erzählung, in der Mini mit ihrer Großmutter und ihrer Mutter in einer zu kleinen Wohnung haust und die drei Frauen sich gegenseitig das Leben zur Hölle machen. Über die enge, düstere Atmosphäre erzählt Marković von Generationskonfl ikten, Projektionen und dem Schrecken des körperlichen Verfalls, während im Hintergrund Kafkas ähnlich verstörende Erzählung „Das Urteil“ stehen könnte. Die Toilette steht passenderweise im Mittelpunkt dieser Erzählung, ein Ort, an dem sich jeder Privatheit und Selbstbestimmung wünscht – was zum Horror für alle Beteiligten werden kann, wenn diese nicht mehr gegeben sind.
Der wahre Horror in den Geschichten liegt also oft ganz woanders und er ist real, etwa wenn Miki in der ersten Geschichte Mini scherzhaft nach ihren Eltern fragt, über die sie nicht gerne redet: „Sind sie Kriegsverbrecher?“ und die Antwort völlig ironiefrei lautet: „Nein, ich glaube nicht“.
Der Horror mag zwar unerwartet kommen, doch er fügt sich ganz natürlich in diese Welt ein. Er ist kein zivilisatorischer Bruch, wie sonst oft in diesem Genre, sondern ergibt sich (meist) aus Phänomenen des Lebens, die wir alle kennen – und spitzt diese zu. Die comicartige Erzählweise nimmt dem Ganzen das Fatalistische und lässt es leichter erträglich wirken. Manchmal zeitigt es aber auch den gegenteiligen Effekt, etwa in der Geschichte mit dem Titel „Kitzelmonster“, die zu den besten im Band gehört. Das Kitzelmonster taucht überall auf, wo jemand stirbt oder ein anderes Unglück passiert, aber niemand helfend eingreift.
Solche Figuren kennt man aus vielen Horrorstorys und Filmen, sie jagen einem kurz den Grusel den Rücken hinunter, bauen aber Distanz zum eigentlichen Grauen auf, das hinter die Verkörperung des Bösen zurücktritt. Allein der Name Kitzelmonster verstärkt den Horror und macht ihn da sichtbar, wo wir uns schon daran gewöhnt haben: „Das Kitzelmonster attackiert die Beraubten und Verprügelten, das Kitzelmonster kitzelt die Ertrinkenden im Mittelmeer.“ Das Kitzelmonster ist aber ebenso im Mehrbettzimmer im Krankenhaus zu finden, in dem ältere Menschen nur noch zum Sterben untergebracht sind. Immer wieder bricht die Erzählerin die vierte Wand, also jene zum Publikum, und spricht es direkt an: „Anmerkung: Falls ihr eine Zusatzversicherung oder eine Privatversicherung habt, könnt ihr diese Geschichte über Mini als erfunden betrachten, weil dies eine Realität ist, aus der ihr euch (zumindest vorübergehend) freigekauft habt.“
Es wäre zu einfach zu sagen, hinter all diesem Horror stecke vor allem Gesellschafts- und Sozialkritik. Schon in ihren vorangegangenen Romanen mischt die aus Belgrad stammende Autorin politisches Engagement in ihre Texte, was aber nie auf Kosten der sprachlichen Qualität oder der Unterhaltung geht. „Minihorror“ ist vor allem eines, nämlich unfassbar komisch. Markovićs Humor ist klug, aber zugänglich – und er ist sehr facettenreich. Die kurzen Geschichten wirken einfach, sind aber in Wahrheit hochkomplex, anspielungsreich und virtuos konzipiert. Man kann jeden der Texte mehrmals lesen, wird dabei neue Details finden und dabei vermutlich genauso laut lachen wie beim ersten Mal.
Minihorror
Von Barbi Marković
Residenz 2023
185 S., geb., € 24,
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