Unterwasser - © Illustrationen: iStock/Grafissimo

"Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art" von Matthias Gruber: Der Sprung ins Wasser und darüber hinaus

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Matthias Gruber rückt in seinem Debütroman „Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art“ eine Außenseiterin in den Fokus, die nicht von dieser Welt ist.

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Matthias Gruber rückt in seinem Debütroman „Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art“ eine Außenseiterin in den Fokus, die nicht von dieser Welt ist.

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Die Erzählfigur bildet das Zentrum dieses Romans. Arielle, so nennen wir die Jugendliche von bemerkenswerter Auffassungsgabe und beeindruckendem Überblick, ist heimgesucht von einer seltenen Krankheit. Sie leidet extrem unter Hitze, kann nicht schwitzen, besitzt kaum Haare, die Zähne sind falsch gewachsen. Verständlich, dass sie sich in der Fantasie ein Gegen-Leben erfindet: Sie schneidet aus Zeitschriften „Lachmünder“ von Promi-Schönheiten aus, um sie vor das eigene Gesicht zu halten und sich im Spiegel zu bewundern. Oder sie klaut sich die Identität eines Mädchens aus dem Internet, um in deren Namen Flirts anzustiften. Ihr Vertrauter Aljosa steht uneingeschränkt zu ihr. Er tut ihr etwas Gutes, wenn er ihre eine Perücke aufsetzt und ihr versichert, wie schön sie sei.

Navigator - © Die Furche

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Matthias Gruber macht keine Geschichte einer Außenseiterin aus dieser Anlage, sondern nimmt das Anderssein als Chance, mit distanziertem Blick auf die Gesellschaft zu schauen. Arielle gehört ja nicht so recht dazu, kann sie doch nicht mithalten mit den für die anderen zur Selbstfindung so wichtigen Tändeleien. Sie ist gezwungen, aus dem Kopf zu leben, wo andere sich dem Gefühlsrausch hingeben dürfen. Das macht sie als Erzählerin unschlagbar, weil sie die Außensicht wahrt und begreift, was alles schiefläuft. Sie ist die sanfte Gegenversion von Oskar Matzerath, nicht auf Protest gepolt, sondern auf Ausgleich – und dennoch nicht jener Welt zugehörig, die alle anderen teilen.

Geschichte eines Milieus

Arielle erzählt nicht nur ihre eigene Geschichte, sondern die ihres Milieus – und vom Versuch, sich von Beschränkungen zu befreien. Denn unter den Nöten, sich nicht entfalten zu können und weit hinter den Wünschen von einem freien Leben zurückzubleiben, leiden alle. Arielle hält all die Befreiungsversuche fest, sich aus dem Mangel ökonomischer oder existenzieller Art herauszuarbeiten. Mit sich im Reinen ist niemand in diesem Buch. Das bessere Leben bleibt eine Chimäre am fernen Horizont – deshalb die bisweilen recht windigen Unternehmungen, eine Änderung des so beklemmenden Ist-Zustandes anzugehen.

Man muss sich nur die Eltern ansehen, die dringend angewiesen sind auf Arielle, die das eigentliche Vernunftwesen in der Familie abgibt. Der Vater zum Beispiel: Zu viel hat er es nicht gebracht. Er entsorgt Wohnungen, aus denen Leute herausgestorben sind, leistet harte Knochenarbeit, die sein Körper schmerzlich verspürt. Ein so klares wie aussichtsloses Ziel steht ihm deutlich vor Augen: Er durchstöbert die Einrichtungen nach Festplatten – in der Hoffnung, auf einen Kryptowährungsschatz zu stoßen. Und dazu die Mutter: Sie versucht ihr Glück als Influencerin und vertreibt Produkte einer Kosmetikfirma, ohne abschätzen zu können, in welch verhängnisvolle Abhängigkeit sie sich begibt, wenn sie die Produkte zuerst kaufen muss, um sie dann rasch loszuwerden. Das Debakel ist bei klarem Kopf vorhersehbar. Sie greift zurück auf die von ihrer Tochter usurpierte Fremdidentität aus dem Internet, was nicht gutgehen kann. Man sieht: Mit der Legalität in dieser Familie ist es nicht weit her.

Mit sich im Reinen ist niemand in diesem Buch. Das bessere Leben bleibt eine Chimäre am fernen Horizont.

Vorerst sieht der Roman aus wie eine jener Familiengeschichten, von denen es in der jüngeren deutschsprachigen Literatur regelrecht wimmelt. Das könnte den Grund darin haben, dass die Lebensverhältnisse im Kleinverband schwieriger geworden sind als zu einer Zeit, da die Erwachsenen weniger ichbezogen waren und dachten, sie müssten ihren Kindern so etwas wie Erziehung angedeihen lassen. Grubers Text passt gut in dieses Konzept, doch geht er darüber hinaus. Der Autor liefert den Roman der falschen Chancen, wenn sich die Figuren unter Versagensnot in eine Wunschwelt begeben, in der aber gar kein Platz vorgesehen ist für sie. Vater und Mutter werden sich wohl einrichten müssen im Scheitern, vielleicht schaffen es die Jungen, der Hölle der Entbehrungen zu entkommen. Arielles Kumpel Aljosa jedenfalls hegt Pläne. Mit seinem Vater haust er am Müllplatz, wo er aus dem ausrangierten Material Installationen baut und sich künstlerisch austobt. Er hat die Flucht nach Berlin im Auge, wo er etwas aus seinen Fähigkeiten zu machen hofft. Schließlich verschwindet er sang- und klanglos, hatte er sich doch Arielle einmal anvertraut und gemeint, „dass irgendwo alles besser sein würde.“

Das sitzt! Auch das Mädchen weiß, dass es einen Ort geben muss, an dem sie sich aufgehoben fühlen muss. Also verabschiedet sie sich aus der bedrückenden Enge, wandert zum Fluss, springt ins Wasser. Jetzt wird es metaphorisch. Von Suizid ist nämlich nicht die Rede. Arielle, das durfte man ahnen, ist ein dem Wasser zugehöriges Wesen. Sie – mit Mängeln behaftet, sodass sie sich für die Welt, wie wir sie kennen, nicht geschaffen wähnt – findet erst jetzt Ruhe, „weil alles in meinem Leben sich auf eine Verwandlung zubewegt hatte [...] All das, was mir Schmerzen bereitet hatte, war von hier aus betrachtet nicht mehr als ein Übergang gewesen. Nur ein Weg, der zu gehen war.“ Sie gehört den Ersten ihrer Art an, die im Titel angesprochen werden. Im Buch gibt es Hinweise darauf, dass Arielle nicht ganz von dieser Welt ist. Sie steht dem Ichthyostega nahe, einem Tier, das das Erste seiner Art war, indem es den Sprung vom Wasser auf das Land geschafft hat. Arielle nimmt den umgekehrten Weg, geht zurück ins Wasser, nicht unvernünftig angesichts der gegenwärtigen Lage auf dem „brennenden Planeten“.

Matthias Grubers Roman sticht aus der Fülle der Neuerscheinungen heraus, weil er sich nicht mit dem klassischen Erzählrealismus zufriedengibt. Er spricht von der Gegenwart und baut einen Raum auf, in dem Platz ist für Allegorie und Metaphorik, für eine widersetzliche Haltung, die weiß, dass es mit dem reinen Abbild nicht getan ist. Warum es dieses Werk nicht auf die Shortlist für Debüts des Österreichischen Buchpreises geschafft hat, ist eine eigene Form von Mysterium.

Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art - © Verlag Jung und Jung
© Verlag Jung und Jung
Literatur

Die Einsamkeit der Ersten ihrer Art

Roman
von Matthias Gruber
Jung und Jung 2023
293 S., geb., € 23,–

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