Unterwasserblumen - © Illustrationen: iStock/Grafissimo

"Nachtfrauen" von Maja Haderlap: Eine Reise ins Innere der Kindheit

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Maja Haderlap gehört zu den bedeutendsten Stimmen der mehrsprachigen österreichischen Gegenwartsliteratur. In „Nachtfrauen“ erzählt sie von drei Frauen auf der Suche nach Identität.

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Maja Haderlap gehört zu den bedeutendsten Stimmen der mehrsprachigen österreichischen Gegenwartsliteratur. In „Nachtfrauen“ erzählt sie von drei Frauen auf der Suche nach Identität.

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„Waben ohne Worte“: Unter diesem Motto war Slowenien heuer Ehrengast auf der Frankfurter Buchmesse. Es steht für die vielen Einflüsse auf eine mehrsprachige, von einer wechselvollen Geschichte geprägte Kultur, die dennoch ihre Eigenständigkeit bewahrt hat, so die Erklärung. Der Übersetzer Erwin Köstler bemerkt, dass in den letzten Jahren auch in Österreich die längst überholte Auffassung „von einer einsprachigen Nationalliteratur“ immer mehr in Frage gestellt wurde. Dass Kultur über einen „lebendigen Austausch von Erfahrungen, Kenntnissen und Ideen über Grenzen hinweg“ stattfindet, bestätigt sich für ihn auch in einer vermehrten Auszeichnung von Literatinnen und Literaten, die einer mehrsprachigen Minderheit angehören.

Navigator - © Die Furche

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Eine wichtige symbolische Geste in Richtung kultureller Öffnung stellt auch die Einladung an die Kärntner Slowenin Maja Haderlap dar, beim „Staatsakt anlässlich der 100. Wiederkehr des Jahrestages der Gründung der Republik Österreich“ die Festrede zu halten. In ihrer Ansprache „Im langen Atem der Geschichte“ hat sie unter anderem auf das historische Problem des Staates mit den österreichischen Volksgruppen hingewiesen, das sie in der mangelnden Bereitschaft begründet sieht, sich dem „Fortwirken deutschnationalistischer Traditionen“ auszusetzen.

Ihre ersten lyrischen Texte hat Haderlap nur in slowenischer Sprache verfasst. Das hat auch mit der literarischen Prägung in diesem Kulturraum zu tun. In der slawischen Literatur haben Gedichte eine besondere „gesellschaftspolitische Funktion“, wie sie einmal in der FURCHE betonte. Diese Schreibtradition aus „der Peripherie und aus einer Zweiheit heraus“, in der sie sich begreift, zeigt, „dass es keinen festen und eingegrenzten Begriff von Identität und Sicherheit gibt“. Die Auseinandersetzung damit und mit der Geschichte ihrer Heimat bestimmt ihr gesamtes bisheriges Werk. 2011 hat sie mit einem Ausschnitt aus ihrem ersten Roman „Engel des Vergessens“ den Bachmannpreis erhalten. Später wurde dieser Text über den Widerstand der Kärntner Slowenen im Partisanen-kampf gegen die Nazis auch in einer Bühnenfassung zur Aufführung gebracht.

Haderlap analysiert die unhinterfragte Weitergabe hierarchischer Strukturen an die nächste Generation.

Nach einer längeren Prosa-Schaffenspause hat Haderlap nun ihren zweiten Roman „Nachtfrauen“ veröffentlicht. Darin stellt sie das Schicksal dreier Frauen einer Familie aus verschiedenen Generationen vor, die aus ihrer Zeit und ihren internalisierten Rollenprägungen heraus agieren und ein Stück Geschichte der Kärntner Slowenen repräsentieren. Das überaus facettenreiche Geschehen wird in zwei Kapiteln und aus zwei Perspektiven geschildert. Als thematischer, alle anderen Sujets überlagernder Anker kristallisiert sich für sie das Motiv der Fremdheit heraus.

Mira fährt zur Unterstützung ihrer betagten Mutter Anni nach Kärnten. Diese muss in ein Altersheim ziehen, weil der Neffe das von ihr bewohnte Haus umbauen will. Bereits mit der Ausgangssituation der heiklen Betreuungsfrage greift Haderlap ein brisantes und aktuelles Thema auf, das mit vielen Gefühlen und Problemen verbunden ist. Auf der Fahrt in den Heimatort fühlt Mira die große Anstrengung für diese Art von „Expedition im eigenen Land“, die als „Reise ins Innere ihrer Kindheit“ empfunden wird. Im Bedürfnis, sich von ihrem Dorf distanzieren zu müssen, fühlt sie zugleich dessen mächtige Präsenz. Für sie, die Städterin und Soziologin, ist die slowenische Sprache ein „Tor, durch das sie eine abgeschlossene, scheinbar zurückgelassene Welt“ betritt.

Dass Mira sich von ihrer Muttersprache entfernt hat, hat auch mit der Auflehnung gegen ihre Mutter zu tun. Ihr Weggehen markiert in der Familiengeschichte eine Zäsur. Erst bei ihrer temporären Rückkehr reflektiert sie erneut ihr Außenseitertum, den Bruch mit der Vergangenheit. Ihr Blick von außen war ein entfremdeter, geringschätziger, obwohl sie selbst mit großen psychischen Problemen zu kämpfen hat. Als sie mit ihrer Mutter über die Grenze nach Slowenien fährt – quasi über die „magische Linie –, empfindet sie ihre „Unwissenheit als Niederlage“. Erinnerungen an ihre Tante Dragica, die trotz persönlicher Gefahr für die Sache der Slowenen gekämpft hat, werden wach.

"Alles löst sich auf"

Beim Lesen und Vernichten ihrer dunklen Tagebuch-Hefte kommt in Mira auch der frühe Tod des bei der Waldarbeit verunglückten Vaters hoch, an dem sie sich einst die Schuld gegeben hat und der für ihre Familie alles verändert hat. Und jetzt das Schuldgefühl der Mutter gegenüber: „Alles löst sich auf, die Nähte im Gewebe sind beschädigt.“ Am stärksten spürbar wird diese Bodenlosigkeit in der Nacht, wenn Erinnerungsteile, Gestalten und Lebenssplitter aus der Tiefe emporsteigen.

Neben der Suche nach Identität, die am Rande auch die Dichotomie von Stadt und Land berührt, beschäftigt sich Haderlap vor allem im zweiten Kapitel mit der Rolle der Frau und ihrer gesellschaftlichen Position. Weibliche Erwerbstätigkeit gilt als „Zuarbeit“, primär ist man Hausfrau und Mutter. Als Alleinstehende ist man auch nach dem Krieg Übergriffen schutzlos ausgeliefert. Schweigen und Hinnehmen bleiben weibliche Tugenden.

In beiden Generationen wiederholen sich Lebensthemen in abgewandelter Form, etwa der frühe Verlust des Vaters oder die belastende, kühle Mutter-Tochter-Beziehung. Anni beschreibt ihre eigene Mutter als „dunkle Bergkönigin“, als „Riesin“ in einer Eislandschaft. Haderlap analysiert die unhinterfragte Weitergabe hierarchischer Strukturen an die nächste Generation in einem System rigider Abhängigkeiten und subtilen seelischen Drucks. Trotzdem wird aus Rücksicht auf die Kinder das eigene Glück hintangestellt. Widerstand bedeutet Gefahr. Je mehr Anni sich mit Miras Überzeugungen auseinandersetzt, desto stärker gerät ihre Welt ins Wanken. Als alte Frau reflektiert sie ihr Leben in Form von Zeichnungen, da sich die Worte für das Erlebte nicht einstellen wollen. Sicherheit spürt sie nur in der religiösen Sprache. Diese würdige Sprache, „die in den Himmel reichte“, betrachtet sie als stabilen Wegweiser, um die bittere Realität leichter zu ertragen.

„Nachtfrauen“ ist ein beeindruckender und vielschichtiger Roman über den Versuch, das Gefühl der Fremdheit und des Verlusts zu überwinden und durch das Zulassen von Nähe Stärke zu gewinnen. Haderlap gibt dieser inneren Zerrissenheit mit all den durchkreuzten Träumen, Krisen und Reflexionen über dieses verworrene familiäre Bindegewebe souverän eine bildreiche und lebendige Sprache. Über die Grenze(n) zu gehen, zeigt sich auf mehreren Ebenen als Chance. „Als ob es nichts Wichtigeres auf der Welt gäbe als irgendeine Zugehörigkeit, deren Nachtseite die Verbannung ist.“

Nachtfrauen - © Verlag Suhrkamp
© Verlag Suhrkamp
Literatur

Nachtfrauen

Roman
von Maja Haderlap
Suhrkamp 2023
294 S., geb.,
€ 24,70

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