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Enriea von Handel-Mazzetti

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Drunten am Isonzo oder, wie meine braven lowenischen Soldaten mit besserem Rechte agten, an der Soca, überkam mich manchmal ie Besorgnis, der österreichische Altmeister nter den kraftvollsten Mittlern zwischen rolks- und Hochkultur hätte eigentlich seine este Zeit überlebt. Dabei hatte ich, über teiermark an die Südfront abgehend, im Früh-jhr 1915 Peter Rosegger gerade mit em Erler Passionsspielbuch angetroffen. Aehn-ch mag es jenen Wienern ergangen sein, die twa noch 1870 dem alten Franz Grill-arzer begegneten. Starker Zeitwandel war ber ihre Epochen hinweggeraten. Jenes Oestereich bestand nicht mehr, aus dem sie hervor-egangen waren und dem sie ihr literarisches Veitgepräge gaben.

Heute klingen solche Bedenken bei beiden Repräsentanten unseres Schrifttums überholt, eiteng, österreichisch überkritisch. Aber Hand ufs Herz! Beschlichen sie nicht manchen, als r soeben las: „Enrica von Handel-Mazzetti ritt mit 10. Jänner 1955 in ihr 85. Lebensjahr in“? Mit der Einzwängung der „Alpen- und )onaulande“ in das Tausendjahrreich war es lötzlich gerade um diese österreichische Dienerin ganz still geworden. Wenn auch dann ein edeutender Schweizer Verlag und in der Folge ioch andere sich ihrer großen Romane annah-len, die Nachkriegsjugend kehrte sich doch limmer wie die frühere stürmisch und siegestolz ihrem Schaffen zu. Die geistige Front zwi-chen Katholizismus und Protestantismus, die ie noch als Verhängnis antraf und an ihren tärksten Gegensätzen aufbrach, gehört heute 'och zu sehr der Geistesgeschichte an. Ebensowenig lebt im persönlichen Bewußtsein die alte )onaumonarchie mit ihrer Abwehr im Osten :nd ihrer Aufgabe in Europa. Damit büßte Jandel-Mazzettis ausladend-breite „barocke“ Veit zuviel des Zeiteigenen ein. Ihre Lebens-irobleme und Persönlichkeitsideale werden leute nicht mehr so wichtig wie vor vierzig ider fünfzig Jahren genommen. Fast wie 1870 ei Franz Grillparzer und 1914 bei Peter Ros-:gger klingt es durch: es war einmal! Nur mit lern Unterschiede, daß wir Lebende uns trotz inserer jetzigen Abneigung vor jedem Historismus doch wieder und noch mehr uns auf Grillparzer besinnen, freilich ganz anders als seine Zeitgenossen, losgelöst von allzu Zeitbedingtem und Persönlichem, und auch schon etwas Peter Rosegger nachsinnen. Er war doch mehr ge-j wesen, als man im völkisch-liberalen Vorstürmen von 1914 an ihm gesehen hatte. Bei E. v. Handel-Mazzetti haben wir uns selbst auf ihr durchschlagendstes Zusammenspiel österreichisch-europäischer Kulturkräfte, auf ihre, literarische Bahnbrechertat noch nicht recht verstanden und uns noch weniger klargemacht, wieviel an typisch Künstlerischem auf geistigsittlicher Ebene, aus der schöpferischen Potenz ' gerade uns Oesterreichern und Katholiken geworden und geblieben ist. Sie hat den Deutsch sprechenden Katholiken überhaupt ein Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen wie in den glanzvollsten Zeiten wiedergegeben und durch ihre Werke eine vorderste Stellung gesichert, die so manchem jüngeren Talent den Aufstieg ermöglichte, uns Freude und Stolz bereitete und in weiter Welt vielfachen Nutzen einbrachte. Ihr Eintritt in das 85. Lebensjahr soll daher über den Tag und jedes konventionelle Gratulieren hinaus auf das Dauernde, auf ihre Werke, besinnen, damit nicht erst Fremde, wie bei Grillparzer und Rosegger, auf unsere Eigenwerte aufmerksam machen müssen.

Vor 25 Jahren brachte der Münchner Verlag J. Kösel ein Festbuch „Enrica von Handel-Mazzettis Persönlichkeit, Werk und Bedeutung“ heraus, welches das Schaffen der Dichterin zum ersten Male zusammenfassend würdigte — vorab durch Rudolf Henz — und, so viele Festschriften auch zuvor und hernach erschienen, ersichtlich krönte. Es wird insofern das Handel-Mazzetti-Buch bleiben. Intimere, persönlichere Züge zeichnete jetzt Maria Freyliger in einer viel bescheideneren Schrift und im Selbstverlag (Ebensee 1955) nach, die wohl geeignet und berufen ist, die stille, einsame Frau der Linzer Spittelwiese vertraulich-nahe zu bringen. Dem einen mag die Nachricht, daß eine Mutter der württembergischen Handel und damit eine Ahnin der Dichterin vor 300 Jahren von ihrem Tochtermann der Hexerei beschuldigt, aufs qualvollste gemartert und zu Tode geschunden wurde, als Schlüssel zum Verständnis dienen, weshalb Handel-Mazzetti so eindringlich die Greuel solcher Verirrungen vorführte und zu höherer Menschlichkeit nach ihrem Leitspruch „Etwas Großes ist die Liebe!“ mit dem unerhörten Einfühlungsvermögen ihrer Darstellungskunst hindrängte. Dem anderen mag die Gestalt des Urgroßvaters, jenes josephinisch-humanistisch geschulten Juristen der Konzilstadt Trient fesseln, der den Handel das Adelsprädikat Mazzetti zubrachte. Das Elternpaar (um gleich darauf überzuspringen), der österreichische Offizier und seine schwer errungene ungarische Gattin, versinnbildet nochmals scheinbar Gegensätzlichstes in jener Großzügigkeit, Hingabe und Liebe, die in Handel-Mazzettis Werken nach schwerstem Ringen und Kämpfen triumphierend zu Größerem antritt, nicht nur, um aus solcher

Caritas dem Erdkreis vieles, bitteres Weh zu ersparen, sondern um eine geistige Atmosphäre für eine Welt des Schöneren zu schaffen, wie sie Handel-Mazzetti in ihren siegreichsten Romanen „M einrad Helmpergers denkwürdiges Jahr“, „Jesse und Maria“ und „Die armeMargaret“ gelang. Sie begründeten den neuen deutschen kulturhistorischen Roman und stellten die unbestrittensten Marksteine in der Geschichte der deutschen Epik um die Jahrhundertwende dar.

Sie selbst lebte mehr und mehr nur ihrer inneren Mission, verlor bald ihre Eltern, Angehörigen und Vertrauten und steht seit Jahren vereinsamt, wie eine Karmelitin, fast schon mehr in der anderen Welt: ein langjähriges Opfern in ihrer großen Berufung. Ihre vielen Jahre wurden beschattet von mancher Betrübnis, ihre zarte Konstitution von tiefempfundenem Leid und arger Beschränkung. Geselligkeit und Kunstgenuß. Schauen, Erleben und Reisen und die herzerwärmenden Freuden der Familie wurden ihr nicht hinzugeschenkt. Still steht sie im Hintergrund ihrer Werke, die sie in harter Heimsuchung gebar. Sie steht mit deren Erfolg, Widerspruch und mit der unvermeidlichen Indolenz menschlicher Gedankenlosigkeit. In besten und in bescheidenen Tagen verharrt sie auf der praktischen Betätigung ihrer Caritas. Ihre Briefe an die Verehrer ihrer Kunst wurden immer seltener, ihre eigene Schrift immer kleiner und schwieriger. Sie stand bange Zeiten vor der Erblindung. Ihre Augen weiteten sich daher noch öfter in die Ferne. Sie hinterläßt gewiß nicht wie der verbitterte Grillparzer eine Schatulle voll unbekannter Schöpfungen. Sie hat ihr Lebenswerk unserem Jahrhundert geleistet und kundgetan. Es ist also an uns, ihre Leistungen aufnehmend zu vererben und der Welt des äußeren und inneren Elends und des Hasses als Zeugnisse edelster Dichtung und selbstbewährter Ueber-zeugung, die vor keinem eigenen Opfer zurückscheute, entgegenzuhalten.

Ihre großmächtigen Roman-Trilogien „S t e-phana Schwertner“, „Sand“, „Frau Maria“ und „Graf R e i c h a r d“ verraten ihre seherische Begabung, mit der sie ferne Zeiten und Kämpfe zu vollstem Leben ausführte und das kulturhistorische Erfassen jener Epochen wie das menschliche Gestalten ihrer Figuren in ungewöhnlicher Schau meisterte. Als wenn sie die heiligen Urbilder, die sie als Institutszögling von St. Pölten in sich aufnahm, aus deren starrer Ueberlieferung ins heftigste Leben übersetzen müßte, verknotete sie deren Schicksale in den Stürmen und Feindseligkeiten aufs dramatischeste, sich selbst an Volkstypen und in Volksszenen innerlich emporreißend. Darin bewies und bewährte sie ihre seherische Kraft und Formgewalt, daß sie, die ich nach ihrem persönlichen Erlebniskreis gerade eine Klosterfrau strengster Observanz genannt habe, in einer weiten Welt einen Wirklichkeitssinn entfaltete, der selbst dem unerhörtest pulsierenden Leben der Vergangenheit entsprach. Wer zum Beispiel den Kaiserauftritt im Rathaus zu Steyr eingangs ihrer Stephana-Trilogie vornimmt, wird kaum etwas Ebenbürtigeres an Massenszenen von Schiller bis Sigrid Undset aufzuspüren vermögen. Damit ist auch schon die Linie angeführt, in die sie ihre Begabung vorrückte. Wer aber die inneren Vorgänge dieser seltsamen Frau erspüren möchte, wird zunächst bei ihrem bruchstückartigen Buche verweilen, das sie dem schlesischen Dichter

Johann Christian Günther, ihr eigenes dichterisches Erleben und Erleiden widerspiegelnd, widmete.

Glänzendes Pathos und goldener Humor schlagen noch in ihren Briefen und dichterischen Kleinigkeiten wie aus der Backfischzeit ihrer vielgeliebten „R i t a“ durch, einer jener wenigen Typen, die ihrem Herzen zunächststehen und deren Widerparte die Paare vervollständigen, die das Leben niemals verleugnet. So eng auch die Lebensstationen der Dichterin beisammenstehen, Wien, St. Pölten, Steyr und Linz, so weit blickt Handel-Mazzettis Abstammungsheimat und Dichtungsgeschehen. Nicht das ominöse Wort des am schwersten enttäuschten Grillparzer vom Dank des Hauses Oesterreich, vielmehr das andere aus seiner Größe trifft auf seine Partnerin zu: „In deinem Lager ist Oesterreich!“

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