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Epos von vier Jahrhunderten

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Man kann den Namen Enrica v. Handel-Mazzettis, die am 10. Jänner 1951 den 80. Geburtstag feiert und unzweifelhaft in der ersten Reihe aller Dichterinnen — nicht nur Österreichs — steht, nicht anders als mit, Ehrfurcht aussprechen, wenn man sich das gewaltige Lebenswerk vor Augen hält, das sie im Zeitraum eines halben Jahrhunderts geschaffen hat. Sie gilt mit vollem Recht als Meisterin des kulturhistorischen Romans, dem sie eine ganz besondere Form gegeben hat. Bedeutende kulturhistorische Romane hat es sicherlich schon lange vor ihr gegeben, sie aber hat es verstanden, nach tiefgreifendem Studium der Zeitgeschichte samt ihrer Literatur dank einer ungewöhnlichen Einfühlungsgabe das Kolorit einer Epoche wiederzugeben und die Menschen in der Sprache ihrer Zeit reden zu lassen.

Wer das Gesamtwerk der Dichterin überschauen will, dem ergeht es ähnlich wie dem erstaunten Betrachter, der zum erstenmal in den Stanzen des Vatikans die großen historischen Kolossalbilder Raffaels, besonders die Wandgemälde aus der Geschichte Konstantins des Großen, bewundert. Wohin immer das Auge blickt, überall ist Leben und Bewegung, und überall sieht man das ernste und strenge Antlitz der Geschichte. Bei ihrem ersten Auftreten, das kein Geringerer als der damals hochangesehene Kritiker Ferdinand Avenarius im „Kunstwart“ wiederholt begrüßte, wurde die Handel-Mazzetti nicht mit Unrecht als die Dichterin der Gegenreformation bezeichnet! denn das 17. Jahrhundert und die Ära Ferdinands II. sind ihre spezielle Domäne, in der sie wie kein anderer bewandert ist. Aber nachdem sie in drei großen Werken das gewaltige Prosaepos der österreichischen Gegenreformation geschrieben hatte („Jesse und Maria“ [1906], „Die arme Margaret“ [1910] und „Stephana Schwertner“ [1913/14]), wandte sie sich anderen Zeiträumen der Geschichte zu, in denen sie bald ebenso heimisch wurde. Ihre Liebe und Sorgfalt gilt in gleicher Weise der Epoche der glorreichen Türkenkriege von 1683 bis 1691 („Die Waxenbergerin“ [1934], „Graf Reichard“ [1938/40]), dem Anbruch des 18. Jahrhunderts mit seinen letzten Ketzerprozessen („Meinrad Helmpergers denkwürdiges Jahr“ [1900]), wildgenialen Original- und Kraftnaturen („Johann Christian Günther“ [1928]) und dem entzückenden wie intrigenreichen Rokoko zur Zeit Augusts des Starken („Frau Maria“ [1929]), wie schließlich auch der gärenden Zeit nach der Beendigung der Napoleonischen Kriege („Der deutsche Held“ [1920], die „Karl-Sand“-Trilogie [1925/27]). Auch ihre an der Schwelle des 20. Jahrhunderts spielenden Gegenwartsromane („Brüderlein und Schwesterlein“ [1913], „Ritas Briefe“ [1922]) muten uns heute mit der Darstellung einer versunkenen Kulturepoche schon wie ein Stück Geschichte an.

In diesem großen historischen Rahmen bewegt sich ein ununterbrochener Zug von Gestalten, die man niemals mehr vergißt, wenn man ihnen einmal tief ins Auge gesehen hat. Mit fast männlicher Kraft sind diese unbeugsamen Heldenfiguren gezeichnet: Jesse von Veldern-dorff, der Feind des Bilderdienstes und Eiferer für den lutherischen Glauben, der wilde Herliberg, der dem Reiter des Kaisers in Schönherrs „Glaube und Heimat“ offensichtlich zum Vorbild diente, der alte Händel, der Richter von Steyr, der den eigenen Sohn dem Blutgericht überantwortet, der scharfsinnige Ketzer MacEndoll, der für sein atheistisches Bekenntnis den Tod erleidet, der durch die Napoleonischen Kriegswirren aus Sitte und Gesetz entwurzelte Tessenburg, der sterbende Dichter Günther, ein in Not und Elend flackerndes Licht, Karl Sand, der fanatische Burschenschafter und Graf Reichard, der junge siegreiche Held vom Eisernen Tor. _Neben diesen meist wilden und harten Männern schafft die Dichterin so rührende Figuren, wie den kleinen Edwin und den Mönch Meinrad mit der Einfalt seines Herzens sowie ein Vorbild echter und wahrer Größe im Erzherzog Carl, dem Sieger von Aspern. Sind die männlichen Figuren der Dichterin meist ein hartes und trotziges Geschlecht, so wendet sie demgegenüber ihren Frauengestalten die ganze Liebe eines weiblichen Herzens zu: Maria Schinnagl, die einfache Förstersfrau, die um das Gnadenbild von Maria-Taferl ringt, die arme Margaret, eine stille Dulderin, die unter der rohen Gewalt der Soldateska unsäglich leidet, Stephana Schwertner, eine rührende, jungfräuliche Gestalt, die wohl in der ganzen deutschen Literatur kein gleichwertiges Ebenbild findet, die Waxenbergerin mit ihrer stillen, einfachen Frömmigkeit, und schließlich in den modernen Romanen die ergreifende Figur der Rita, ein Mädchen, das sich in einer Welt der Verderbnis den reinen und hohen Adel ihrer Seele zu bewahren weiß.

Um diese Hauptfiguren flutet und brandet das bewegte Leben ihrer Zeit. Wenn wir etwa das große Gemälde der österreichischen Gegenreformation mit staunenden Augen betrachten, bietet sich unseren Blicken eine fast verwirrende Fülle von Bildern dar. Die ganze Epoche ist mit sorgfältiger Treue geschildert. In ähnlich umfassender Weise hat etwa nur noch der große Epiker Grimmelshausen das 17. Jahrhundert geschildert, und das war ein Zeitgenosse dieser Epoche. Dieselbe Sorgfalt und Treue in der Schilderung der Umwelt finden wir aber auch in allen anderen Werken der Dichterin. Sie ist in dem protestantischen Reichsstift Quedlinburg ebenso zu Hause wie in den Kreisen der Jenenser Professoren und Burschenschafter, sie kennt die Technik des Minenkrieges zur Zeit der Wiener Türkenbelagerung und die Fachausdrücke der Festungsingenieure ebenso wie den Komment der Thüringer Landsmannschaften um 1720, sie schildert die exklusiven Kreise der hohen Bürokratie und Generalität zur Zeit des Kaisers Franz mit derselben Lebendigkeit wie eine Varietevorstellung im Ronacher einschließlich des vornehmen Publikums zu Beginn unseres Jahrhunderts.

Mit der gleichen Liebe wie der unübersehbare Zug der Gestalten wird von der Handel-Mazzetti auch die heimatliche Landschaft geschildert, in der sie leben und handeln. So die schöne Donaugegend zwischen Pöchlarn und Melk mit dem hoch auf dem Berge gelegenen Maria-Taferl und dem Flecken Marbach zu seinen Füßen, mit den Herrschaftsschlössern am Ufer und den langgestreckten Auen, an denen der Fluß vorübergleitet, ferner das prächtig thronende Kloster Kremsmünster, eine uralte, auf den Bayernherzog Tassilo zurückgehende Kulturstätte in einem gesegneten Landstrich Oberösterreichs, und immer wieder die altertümliche Stadt Steyr mit den hochgiebeligen Häusern und engen Gassen, mit den mittelalterlichen Türmen und Toren, die noch heute zu sehen sind, Auch Wien, die Geburtsstadt der Dichterin, steht im Wandel der Jahrhunderte in vielen Werken im Mittelpunkte der Schilderung, ebenso wie die oberösterreichische Landeshauptstadt, das „stille Linz“, wo die Dichterin schon seit vielen Jahren lebt und eine zweite Heimat fand, die sie mit großer Liebe geschildert hat.

Neben dem gewaltigen epischen Werk ist das lyrische der Dichterin in dem schmalen Bändchen „Deutsches Recht und andere Gedichte“ (1908) vereinigt. Zu den schönsten zählt hier das von Heinrich Federer bewunderte „Jesulein auf dem Eselein“ und der Volkssang aus dem alten Steyr „Deutsches Recht“, der seinerzeit durch die Vortragskunst des deutschen Rezitators Ernst von Possart weite Verbreitung fand.

Wenn auch nicht alle Romane der Dichterin in ihrer engeren Heimat spielen, so hat die Handel-Mazzetti doch, ähnlich wie Grillparzer, den entscheidenden Anstoß zu ihrem Schaffen aus der österreichischen Geschichte empfangen. Wie uns Grillparzer trotz der Weite seines Stoffgebietes sein Eigentlichstes im „Ottokar“, „Treuen Diener“, „Bruderzwist“ und darüber hinaus in der „Ahnfrau“, „Libussa“ und im „Armen Spielmann“ gegeben hat, ebenso die Handel-Mazzetti in ihren Romanen aus der Gegenreformation und den Türkenkriegen, im „Meinrad Helmperger“, „Deutschen Held“ und in den „Rita'-Büchern. Hier verwachsen uns die Gestalten mit der uns von Jugend auf vertrauten heimischen Landschaft zu einem organischen Ganzen, während uns bei den fremden Schauplätzen der Dichterin die Anschauung des Ortes mit seinen eigentümlichen Sitten und Lebensgewohnheiten vielfach fehlt.

Österreich darf mit Stolz auf seine Dichterin blicken, die in ihrem Werke vier volle Jahrhunderte mit den wechselnden Phasen der Kultur unter wirklichkeitsnaher Schilderung aller Zeitumstände zur Darstellung bringt, die mit ihrem tief religiösen Bekenntnis höchste künstlerische Gaben vereinigt, und deren Ruhm heute schon wie ein helles Licht weithin erstrahlt.

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