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Der Fall Kaläsz

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Der vor einigen Jahren in Pees (Fünfkirchen) entstandene Lenau-Verein plant die Gründung eines ungarndeutschen Kulturzentrums. Das Lenau-Haus soll als Begegnungsstätte zur Uberwindung jenes Dilemmas beitragen, in dem sich die ungarndeutsche Literatur seit Jahren befindet. Ihr Kardinalproblem lautet nach wie vor: Für wen und warum man schreiben sollte? Trotz zahlreicher Publikationsmöglichkeiten im Lande steht diese Literatur isoliert da. Die Gefahr des Abgleitens in die Klischees einer Art Heimatliteratur ist immer noch nicht gebannt.

So natürlich die doppelte Abhängigkeit der Autoren von der Heimat und der Muttersprache auch ist, so klar und motiviert ihre Artikulation auch erfolgt — als alleinige tragende Kraft kann sie nicht genügen. Dieser Widerspruch wird auch in der Situation ' der verschiedenen Literaturgattungen sichtbar; Dramatisches entsteht kaum, die Prosa entwik-kelt sich bescheiden, als vielversprechend erweisen sich allein die Autoren lyrischer Arbeiten.

Auch hier dominieren allerdings zwei ineinander oft übergreifende Tendenzen; die dem Volkslied nahestehende, häufig starke didaktische Züge tragende Heimatdichtung, die vorwiegend von den Dichtern älterer Generationen kultiviert wird, und die mehr ichbezogene Lyrik jener jüngeren Autoren, die ihre Zugehörigkeit zum Deutschtum bereits in einem Urbanen Milieu zu wahren versuchen. Ein Beispiel dafür ist die auch in Österreich bekannte Dichterin Valeria Koch. Auch für sie gilt allerdings „der Fluch des Ungarndeutschtums“, dessen Intelligenzschicht seit dreihundert Jahren stets an das Ungarntum verlorenging.

Der Fall Märton Kaläsz, geboren 1931, eines der hervorragenden ungarischen Lyrikers der Gegenwart, zeigt ebenfalls keinen Ausweg aus dieser Situation, er stellt jedoch das Phänomen deutlich dar, wie es auch für die jüngeren unter den ungarndeutschen Literaten typisch ist.

Kaläsz, damals noch „Christmann“, wuchs in einem Schwabendorf im Südkomitat Baranya (Braunau) auf. Äußere Umstände, wie Verfolgung des Deutschtums und Verbot der Sprache zwangen ihn nach dem Krieg dazu, seine ersten Gedichte auf ungarisch zu verfassen, wobei er manchmal auch ein Wörterbuch verwendete. Nach der Matura kehrte er nicht mehr in sein Dorf zurück. Die alte Gemeinschaft, das geistig-sprachliche Zuhause war — infolge der Deportationen und der Ansiedlung von Flüchtlingen aus Siebenbürgen, aus der Slowakei und aus Jugoslawien — zerfallen. Im rein ungarischen Milieu und oft auch Diskriminierungen ausgesetzt, empfand er ungarisch als die Sprache, in der er seine Talente verwirklichen konnte.

Wie tief er jedoch am Dorf leben hing, begriff er nach der Ubersiedlung in die Hauptstadt im

Jahre 1957. Vor dem bedrückenden Gefühl der Heimatlosigkeit und der Desintegration flüchtete er in eine Lyrik, die stets noch von den Dorf erlebnissen geprägt war.

Der Kreis, den er wie einen Schutzwall um sich zog, wurde erst Mitte der sechziger Jahre in Ostberlin durchbrochen, wo er ein Jahr als Stipendiat verbrachte. Die Freundschaft mit dem damals in der völligen Isolation lebenden Lyriker Günter Kunert, die Möglichkeit, Zeuge der ungebrochenen Haltung von Dichtern der Macht gegenüber zu sein, ließen ihm sein Europäertum bewußt werden.

Diese Bereicherung — „die Vervollkommnung des Ichs“ — ver-hälf ihm dazu, die für verloren gehaltene Mikroweit des Dorfes wieder als Gemeinschaft zu erfahren. In dieser neu erlebten Welt entwickelte er sich auch als Erzähler; sein bedeutender Roman „Winterlamm“ über die Verführbarkeit und die Verfolgung der Ungarndeutschen, wird bei Styria auf deutsch erscheinen.

Gewiß ist Märton Kaläsz für die ungarndeutsche Literatur verlorengegangen. Doch Geist und Talent streben nach Verwirklichung, deren Wege nicht nur von den Entscheidungen des Individuums, sondern öfter auch von den historischen und politischen Gegebenheiten bestimmt werden - in diesem Teil der Welt, Mitteleuropa genannt, ganz besonders.

Für Kaläsz führte „der Weg nach Hause“ über das universale Europa-Erlebnis, in dem er schließlich seine Identität fand. Und dies ist ein Aspekt, der in der Desintegration und Entfremdung der Gegenwart einen der wenjgejj festen Anhaltspunkte bietet: Eine Erkenntnis, die begabten jungen Autoren der ungarndeutschen Literatur noch bevorsteht.

In ihrer Kultur und nationalen Identität schon lange nicht mehr diskriminiert, werden die ungarndeutschen Autoren im gesellschaftlich-politischen Emanzipationsprozeß immer mehr Möglichkeit zur Erfahrung Europas und somit auch zur Entfaltung ihrer ureigensten Literatur als einen Teil der universalen deutschen Kultur erhalten.

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