Unterwasser - © iStock/Grafissimo

Wie über das Fremde schreiben? Innenansichten des Unvertrauten von Sherko Fatah

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Hinausgelesen: Sherko Fatahs Stefan Zweig Poetikvorlesungen „Die Fremden sind wir. Für eine Literatur in Bewegung“ bieten Einblicke in sein eigenes Schreiben, aber hinterfragen auch generell die Perspektiven der Literatur.

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Hinausgelesen: Sherko Fatahs Stefan Zweig Poetikvorlesungen „Die Fremden sind wir. Für eine Literatur in Bewegung“ bieten Einblicke in sein eigenes Schreiben, aber hinterfragen auch generell die Perspektiven der Literatur.

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Literatur könne die eigenen Erfahrungen erweitern, heißt es, sie könne das Fremde nahebringen, lesend könne man ein anderer werden. Doch in der Art und Weise, wie sie das tun, unterscheiden sich
Literaturen sehr. Sherko Fatah etwa hält die Vertrautheit für „eine Illusion, die aus einem Mangel an Wahrnehmung entsteht. Sie ist im Leben wie in der Literatur durchaus nützlich, wir brauchen sie im Leben gewiss, in der Literatur häufig, künstlerisch aber bleibt sie für mich unbefriedigend.“

Ob der Umgang mit dem Fremden, mit den Fremden ein glaubwürdiger ist, das ist in der Literatur oft eine Frage der Perspektive. Sie kann auch einfach nur trivial sein, zu erkennen an „der platten Aneinanderreihung von Sachverhalten und dem oftmals deutlich spürbaren Zwang, eine Geschichte den vom Autor, vom Marketing oder schlicht vom Genre vorausgesetzten Leseerwartungen entsprechend zu erzählen und möglichst rückstandsfrei aufzulösen. Je weniger Fragen offen bleiben, desto besser.“

In seinen Stefan Zweig Poetikvorlesungen „Die Fremden sind wir. Für eine Literatur in Bewegung“ (Sonderzahl 2023) erzählt Fatah vom „fundamentale[n] Problem“ seines „frühen Erzählens“, der „Frage nämlich, aus welcher Perspektive ich das Fremde erzählen könnte, ohne es dabei unangemessen zu verzerren.“ Auch wenn es paradox klingt, so sind als Grundlage nicht unbedingt Reisen in die weite Welt von Bedeutung, sondern vor allem die „Imagination“, die „Fähigkeit, auch das Alltägliche fremd oder zumindest unvertraut aufscheinen zu lassen“. Literatur könne das „Unvertraute wahrnehmen und den Versuch unternehmen, es für uns – und das bedeutet in diesem Fall hier mit den Mitteln der Sprache – erlebbar zu machen, eine Innenansicht des Unvertrauten zu erlangen und das ohne Gleichmacherei.“

Er selbst schreibe „Romane über Menschen, die in moralischer Hinsicht nicht wirklich vorzeigbar sind, dennoch aber zuweilen Bestürzendes erleben“. In seinen Figuren kondensiere die „Welt, in der sie leben, mit all ihren Zwängen, mit ihren politischen Wirren, ihren Schrecken, aber auch ihrer Schönheit“.

Und letztlich sind wir alle Fremde: „Nichts, nicht unsere Moralvorstellungen und nicht einmal unsere ästhetischen Vorstellungen haben Ewigkeitswert. Wir alle sind ja selbst Fremde, domestiziert und auf Werte eingeschworen in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort. Der lange Weg, den wir alle gegangen sind, vom Spracherwerb hin zum ersten gelesenen Buch, zu Schule und eventuell Studienabschluss, all das ist begleitet von der allmählich erlernten Kontrolle über unsere wildere Seite. Alle, die hier vor mir sitzen, sind der lebende Beweis dafür, dass der lange Weg zur Selbstkontrolle erfolgreich zurückgelegt wurde. Das ändert aber nichts daran, dass wir alle domestizierte Wilde in einer ihnen fremden Welt sind, die alles dafür tut, uns vertraut zu erscheinen.“

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