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Cellospiel und Humanität

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Der Zug rattert von Perpignan, das an der Hauptstrecke via Barcelona liegt, nach Prades; durch die fruchtbare Provinz Roussillon, das Departement „Pyrenees Orientales“. Rattert und rollt zu Casals... Neben einfachen Leuten aus der Gegend sitzen in den Wagen Touristen, die größtenteils übermüdet sind und — wenn sie ins Gespräch kommen — das gleiche Thema haben. Dem Chronisten fügen sich die Worte, die er nur teilweise versteht, zum gleichen Tenor. Vielleicht legt er mehr hinein, als in Wahrheit gesagt wird. Er vernimmt, mit halbgeschlossenen Augen, dieses: Casals hören und sterben . . .

Prades. Vertraute, kleine Stadt am Fuße des Canigou. Zum zweiten Male ist der Zeitungsschreiber in diesen Mauern: das Wiedererkennen ist ein Vertrautsein. Unfestlichste der Städte — festlichste der Festspielstätten. Diese Festlichkeit braucht keine Ornamente. Ein Künstler flieht vor der Welt, die seinen Ideen von Freiheit und Menschenwürde entgegensteht. Ein Teil der Welt, wenn auch ein minimaler, kommt darauf zu ihm und demonstriert so, daß er Casals Verhalten für richtiger erachte als das, was einige Mächtige tun oder opportunistisch dulden. Ist damit nun ein willkürlicher „Mythos“ geschaffen, den man stürzen muß, weil er unecht, rückwärts-gewandt und wirklichkeitsfremd sei? Solche Fragen wurden und werden in der Tat gestellt. Sie lassen Sich gültig nur aus dem musikalischen Eindruck beantworten, denn in Prades werden keine Reden gehalten. In Prades — in der %lise Saint-Pierre — wird Kammermusik aufgeführt, Kammermusik aus Barock und Klassik.

Die Beschränkung ist offenbar. Casals hat auch das Patronat der Zermatter Meisterkurse inne. Dort ist Bartök das dritte „B“ — hier ist es Brahms. Diese strenge Liebe zu den Meistern der Vergangenheit gilt es zu achten. Wenn einer heute ein Recht auf Auswahl hat, so ist es Pablo Casals. Er setzt indes die Namen einiger neuerer Komponisten, die er im Gegensatz zu der dominierenden Meinung innerhalb der internationalen Musikkritik für bedeutsam erachtet, ebenso wenig auf das Programm wie Schönberg oder Bartök. Er ist vor allem streng gegen ich selbst.

Casals und Cortot spielen. Den dritten im einstigen Bunde — Thibaud - deckt die Erde. Alfred Cortot, der kürzlich erst eine Operation überstanden hat, ist alt geworden und etwas zaghaft — aber berückend ist immer noch seine Meisterschaft, nun ins Gläsern-Vergeistigte gewen ?t. Casals, der um einige Monate ältere, ist unvorstellbar jung. Er spielt energiegeladener denn je. „Nach meiner Meinung gibt es in der Musik kein Ausdrucksmittel, das ausgeschlossen werden könnte — ebenso wenig, wie man in der Rede irgend etwas, das den Ausdruck verstärkt oder nuanciert, ausschließt“ Gegen diesen Satz ließe sich vieles sagen, wenn er au! anderem Munde käme. Der Zufall wollte, daß wir in diesem Jahre ausschließlich Beethoven von Casals hörten: die A-Dur-Sonate op. 69 und die Variationen über ein Thema aus der „Zauberflöte“ („Bei Männern, welche Liebe fühlen“) mit Cortot, die F-Dur-Sonate op. 17 (eigentlich für Horn und Klavier geschrieben) mit Mieczyslaw Horszowski und die Sonaten op. 5 Nr. 1 und 2 mit Eduardo del Pueyo. Die prinzipielle Betonung des MeldMischen, das Herausheben scheinbarer Nebenthemen, individuelle Phrasierung und Tempo-Modifikationen im Dienste des „Ausdrucks“: das wurde oft untersucht und gedeutet. Aber wie alles Subjektive zur musikalisch sinnvollen „Rede“ wird: das galt es wieder neu und staunend zu erfahren. Sein Zusammenspiel mit dem noblen, einfühlsamen Horszowski war vollkommen, weniger das mit del Pueyo, der zunächst einen fremdartig harten, schattierungsarmen und rhythmisch überzeichneten Beethoven gab (op. 101) und sich im Duo mit Casals dann deutlich vernehmbare Bitten um Dämpfung der Lautstärke gefallen lassen mußte, was am zweiten Tag von einigem Erfolg gekrönt war. Kommentar eines jungen Besuchers: „Casals taut selbst einen Eisberg auf!“ Hier wirkt eine Kraft, der das Wort „begnadet“ einmal beigegeben werden darf. Sie ist kein unechter Mythos, sondern nachprüfbare Realität.

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