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CASALS STAMMT AUS VENDERELL

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Die Busse kommen aus Villanueva und fahren nach Tarragona. Die Züge rollen in Richtung Barcelona und Sevilla. Lastwagenfahrer und Handlungsreisende hocken an der langen Bar der Tankstelle am Rande der Stadt. Die letzte Rast und der vorletzte Carachillo vor der kurvenreichen Bergstraße nach Barcelona. Touristen belagern die Photogeschäfte, um ihre farbigen Strandbilder entwickeln zu lassen. Einige Stunden später kehren sie mit geflochtenen Handtaschen und Körben nach Calafell zurück. Der Korbmacher hockt vor seinem Laden, flechtet mit krummen Fingern einen Teppich und schaut ihnen mit glühenden Augen nach.

Ein gebückter alter Mann überquert die Straße. Die schwarze Schärpe, die er sich um den Leib gewickelt hat, ist wulstig, wie ein Geschwür. Seine nackten Füße stecken in Bauernsandalen.

„Dieser Mann“, sagt Senor F., „ist neunzig Jahre alt.“ Er lächelt. Etwas wie Stolz ist in seinen Augen. Hier scheinen die Männer alt zu werden. Hier in Vendrell. Auch Senor F. ist schon über die Mitte der Siebziger hinaus. Er sieht aber eher wie ein rüstiger Sechziger aus. Wie alt werden wohl die Männer sein, die nachts im Schatten der Ramblas ihren Erinnerungen nachhängen?

„Pablo Casals, der ist doch hier geboren?“

„Ja“, entgegnet Senor F. und schaut einem Eselskarren nach, der hochbeladen mit Melonen in einer Seitengasse verschwindet. „Pablo Casals ist ein Sohn dieser .Stadt.“ Und dann nach kurzem Zögern. „Er ist schon über neunzig Jahre alt.“ Dann herrscht betretetenes Schweigen. Es ist ein Schweigen der Ratlosigkeit, ein Schweigen der Anteilnahme, ein Schweigen der Traurigkeit.

Pablo Casals ist Spanier und vor allem Katalonier und wie fast alle Menschen dort ein Stück dieser roten Erde, dieser endlosen Hügel, die als schroffe Klippen dem Meere trotzen oder als sanfte Weinfelder sich dem Meere hingeben.

Doch Casals hat für immer diesem Land den Rücken gekehrt. Er ist ein ruheloser Wanderer geworden.

Nicht weit vom Marktplatz in Venderell steht sein Geburtshaus, in dem er am 29. Dezember 1876 das Licht der Welt erblickte. Wäsche hängt aus den Fenstern, ein Kind weint, Dorfhunde schnuppem in den Rinnsalen, und schwarzgekleidete Frauen kommen Körbe tragend vom Markt zurück.

Ein schnurrbärtiger Mann schiebt ein Holzgestell mit einem großen Rad um die Ecke. Er bleibt stehen, spannt einen Riemen ein, bearbeitet das Pedal mit dem rechten Fuß und schleift ein altes Stück Blech. Ein schabender Ruf hallt durch die Gassen. Der Scherenschleifer ist da! Kinder umringen ihn, und ein stämmiges Weib, die Arme in die Hüften gestützt, beobachtet für einen Moment die Szene.

In den Bäumen vor der Kirche sammeln sich im Herbst die Stare für den Flug nach Süden. Der Lärm, den sie machen, ist weithin vernehmbar. Hier in der Kirche war Casals Vater Organist. Unter seiner Anleitung lernt der junge Pablo Orgel spielen, Klavier, Geige, Cello und Flöte. Das Cello zieht er jedoch bald allen anderen Instrumenten vor. Es folgen die Jahre des Studierens in Barcelona und am Konservatorium in Madrid, die kurze Zeit als junger Musikprofessor in Barcelona, die ersten Konzertreisen, die ersten großen Erfolge.

Etliche Jahre später, als Casals bereits als unumstrittener Meister seines Instruments gefeiert wird, beginnt er damit, einen lang gehegten Traum in die Wirklichkeit umzusetzen. In San Salvador, einem alten Fischerdorf, nur ein paar Kilometer von seiner Heimatstadt entfernt, läßt er sich eine Villa bauen. Es soll nicht nur ein Zuhause werden. Vor allem will er ein kulturelles Zentrum schaffen. Musikfeste will er veranstalten, Dichter sollen Vorlesungen geben und Maler ein und aus gehen. Ein geräumiges Anwesen entsteht, mit einem intimen Saal mit perfekter Akustik, in dem musiziert werden soll, ein großer Garten mit Statuen und Blumen im Schatten gewaltiger Pinien.

Die Kerzen sollen entzündet werden zum ersten großen Musikfest, das diesem Fleck am Mittelmeer seine weltweite Bedeutung geben soll. Doch es soll nie dazu kommen. Der spanische Bürgerkrieg bricht aus. Casals als Republikaner und Demokrat verläßt das Land, als die Gegner dieser Auffassungen den Sieg davontragen.

Der Wind, der vom Meer kommt, schichtet den Sand auf den Gehsteigen von San Salvador zu kleinen Dünen. Alte, vom Wind und Wetter zemarbte Häuser. Hin und wieder ein kleines Fischerboot am Strand. Im Sommer werden die Gehsteige gefegt. Touristen kommen, sonnen sich am Strand und beobachten die Arbeiter, die langsam auch dort Häuser mit Apartamentos für den Sommer entstehen lassen. Doch vor Casals Haus türmt sich weiterhin der Sand. Nun schon seit fast dreißig Jahren. Die Scheiben sind teils zerbrochen, der Garten von Unkraut überwuchert. Die Neugierigen, die durch die Zäune lugen, sehen manchmal eine Gestalt im Garten, alt, mit kahlem Kopf und randloser Brille. Ist Casals zurückgekehrt? Wenn sie die Nachbarn fragen, erfahren sie, daß dieser Mann Casals Bruder ist, der das Anwesen verwaltet und der wie ein Schatten des Meisters dessen einstigen Traum behütet.

„Ja“, sagt eine Nachbarsfrau. „Das ist das Haus des Maestro Casals. Der Maestro hatte große Pläne für San Salvador. Aber dann kam der Krieg dazwischen.“ Sie schweigt. Am Strand geht ein Soldat der Guardia Civil vorbei.

Vor einiger Zeit kam Casals nach Venderell zurück. Seine erste Frau war gestorben und er bekam die Erlaubnis der Regierung, ihrem Begräbnis beizuwohnen. Es gab sehr viel ehrliche Freude, als der große Sohn dieser Stadt wieder zu Hause war. Aber er blieb nicht. Er wird erst wieder zurückkommen, wenn die dunklen Zypressen am Rande der Stadt und die weiße Friedhofsmauer ihn mit ihren Schatten einholen werden. Und dann wird er für immer dort bleiben, ein Stück der roten Erde von Katalonien…

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