Einstein - © Foto: Pixabay

Franzobel: Einsteins Hirn als Trophäe

19451960198020002020

Es ist beeindruckend, wie Franzobel Kurioses mit Fakten zu einer überschäumenden, grotesken Handlung verquickt.

19451960198020002020

Es ist beeindruckend, wie Franzobel Kurioses mit Fakten zu einer überschäumenden, grotesken Handlung verquickt.

Werbung
Werbung
Werbung

Mit seinen Lehren hinsichtlich Zeit und Raum hat er die Sicht auf die Welt und ihre Naturgesetze revolutioniert. Die Rede ist vom weltberühmten Physiker Albert Einstein. Nach seinem Tod rankt sich um sein Hirn eine äußerst merkwürdige Geschichte. Der österreichische Autor Franzobel, der bekanntlich ein Faible für das Skurrile hat, widmet sich diesem bizarren Geschehen in seinem Roman „Einsteins Hirn“.

Als er einmal zum Stoff befragt wurde, beschreibt er ihn als „kosmisches Geschenk“. Er habe ihn so in Beschlag genommen, dass ein „einziger furioser Schreibrausch“ daraus entstanden sei. Wer Franzobel kennt, weiß, dass er für seine Werke sehr aufwendig vor Ort recherchiert. Wie nahe ist diese ungeheuerliche, seltsame Geschichte nun aber tatsächlich an der Wahrheit dran? Im Nachwort verweist Franzobel raffiniert auf Schrödingers Katze: „Alles ist faktisch fundiert und gleichzeitig auch ausgedacht.“ Diese Ambivalenz bestimmt somit den gesamten Roman.

Die Handlung beginnt mit Einsteins Tod. Als er am 18. April 1955 in einem Krankenhaus in Princeton stirbt, soll Thomas Harvey die Autopsie vornehmen. Obwohl die Erben verfügen, dass der Leichnam vollständig verbrannt und die Asche an einer unbekannten Stelle bestattet werden soll, entnimmt der Pathologe das Gehirn, weil er den „Sitz der Genialität“ näher erforschen möchte. Bis hierher zumindest ist die Wahrheit verbürgt. Mit dem Schritt der Hirnentnahme beginnt jedoch das Desaster.

Ein Begleiter der anderen Art

Tief in seinem Inneren überwältigen Harvey, den Romanprotagonisten, plötzlich Ruhmsucht und Eitelkeit. Ohne recht zu wissen, was er tut, stiehlt er das Hirn und nimmt es heimlich mit nach Hause. Was nun folgt, gleicht einer Irrfahrt durch die Strudel des Lebens. Der Besitz dieses Organs bringt sein einförmig gewordenes Dasein zum Pulsieren. Obwohl er ständig zur Rückgabe des Hirns aufgefordert wird, weigert er sich beharrlich. Während einer Andacht bei der christlichen Gemeinde der Quäker beginnt das Hirn sogar mit ihm zu sprechen. Dieser Umstand katapultiert Harveys Obsession auf eine höhere Ebene, weil er sich fortan für Einsteins Denkorgan verantwortlich fühlt, obgleich er nie wissenschaftliche Ambitionen hegt. Privat und beruflich rast Harvey auf eine krachende Talfahrt zu. Er verliert seine Familie, seinen Job, verstrickt sich in neue abstruse Abenteuer und wechselt seine Wohnsitze – immer mit dem Hirn im Gepäck.

Es ist beeindruckend, wie Franzobel Kurioses mit Fakten zu einer überschäumenden, grotesken Handlung verquickt. Fiktionale Fäden bettet er in eine historische Dimension ein und verbindet sie mit ontologischen und kosmischen Fragen. „Einsteins Hirn“ ist daher auch ein Roman über die Auseinandersetzung mit Gott, über Wissenschaft, Pazifismus und den Versuch, in den USA der 1970er Jahre gegen einen omnipräsenten Rassismus anzukämpfen. Mit seiner überbordenden Fabulierlust verliert sich Franzobel aber auch oft in den Seitenarmen des Geschehens, was Längen erzeugt. Schließlich gibt es doch „kein grundlegenderes und perfekteres Rätsel als das der Zeit“.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung