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Israels „zweite“ Hauptstadt

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Wenn man die Bescheidenheit, die solchen Fällen ansteht, nicht vergißt, so mag man wohl einmal, ohne als Gernegroß zu gelten, auch Vergleiche anstellen, die auf den ersten Blick etwas phantastisch anmuten. Wenn wir uns also dieser Spielregel bedienen dürfen, so hat das moderne Israel zwei Hauptstädte — wie die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Und so wie Washington und New York verhalten sie sich auch zueinander.

Jerusalem — dessen Altstadt an Transjordanien fiel — ist im jüdischen Teil als modernes Munizipalwesen mittlerer Größe völlig unversehrt und liefert als Sitz der Regierung der judenstaatlichen Erneuerung das historische Relief. Tel Aviv indes ist nicht nur die größte Stadt des Landes und jene mit der größten Bevölkerung, sondern Israels Finanz- und Wirtschaftszentrum, des Staates eigentliche Hauptschlagader, sein Lebensnerv. Damit sei das Verdienst der vielen Grenzsicherheit und Erschließung des Landes garantierenden Siedlungen, der Pionierpunkte von Metullah bis Elath, in keiner Weise geschmälert. Doch in Tel Aviv mündet eben zum großen Teil das, was sich an politischer, ökonomischer und gesellschaftlicher Existenz im Lande greifbar, sichtbar kristallisiert. Jerusalem mag das Herz Israels sein — Tel Aviv ist sein Pulsschlag.

Ein jeder hat wohl schon einmal gehört, daß, was sich heute Tel Aviv nennt, fast einer halben Million Einwohnern seine munizipalen Dienste angedeihen läßt, über moderne Geschäftsstraßen, Verkehrsstraßen und gepflegte Alleen verfügt, vor kaum mehr als 40 Jahren noch ein unförmiger, namenloser Sandhaufen war. Und doch ist es immer wieder bestürzend, daran erinnert zu werden. Fast möchte man sagen, angesichts so schwindelerregend rapiden Wachstums könnte die Stadt gar nicht häßlich, uneinheitlich, unvollkommen genug sein. Nun, sie hat ihre Mängel, gewiß — doch stehen sie in keinem Verhältnis zu ihren mit so unheimlicher Geschwindigkeit aufgerundeten Positivposten.

Die modernen Wohnquartiere der Stadt sind alles andere als Mietskasernen. Im Zentrum von Bürohäusern umgeben und von Läden „durchbrochen“, stoßen auch Nachbarkomplexe nicht aneinander und vermeiden es, sich gegenseitig Licht und Luft abspenstig zu machen. In ruhigeren Vierteln sind die meisten Häuser, auch die drei- und vierstöckigen, die viele Parteien beherbergen, von eigenen kleinen Gärten oder doch wenigstens Rasenflächen eingehegt, so daß sie, ohne es im mindesten zu sein, oft wie exklusive Vorstadtvillen wirken.

Tel Aviv hat 17 Lichtspieltheater, davon mehr als die Hälfte in europäischem Ausmaß und Zuschnitt, und ständig werden neue hinzugebaut. An repräsentativen Theatersälen fehlt es kaum. Das Philharmonische Orchester, das, wiewohl es viel auf Tourneen ist,in Tel Aviv sein festes Domizil hat, ist dagegen noch immer provisorisch untergebracht und wartet auf die Errichtung eines eigenen, entsprechenden Konzertgebäudes. Natürlich gibt es in Tel Aviv ein richtiges Städtisches Museum, eine Städtische Bibliothek und eine ganze Reihe ähnlicher kultureller Institutionen.

Zahlreiche Autobuslinien versehen den Dienst allein in der Innenstadt und der Verkehr als Ganzes ist so überdimensional stark, wie man ihn bei einer Stadt dieser Größenordnung kaum irgendwo in der Welt antrifft.

Der Tel-Aviver ist geschäftig. Er hat nicht nur seine Arbeit, sein Kaffeehaus und sein Kino. Es färbt auf ihn ab, daß fast sämtliche politischen Parteien, die wirtschaftlichen und kulturellen Unternehmungen in Tel Aviv ihre wichtigsten Zweigstellen, genauer gesagt: ihre Zentralen unterhalten. Die Gesamtheit dieser enormen Zentralisation berührt auf die eine oder andere Weise fast jeden Bürger der Stadt. Welche persönlichen Interessen er außerhalb des engen Berufsund Familienkreises auch haben mag — in Tel Aviv findet er für sie alle den entscheidenden Ansatzpunkt: Schachklub und Sportverein, Briefmarkenbörse und Publizistik, Parteipolitik und Wohlfahrtsarbeit, Kunst und „society“.

Die eigentliche Attraktion Tel Avivs besteht darin, daß es nicht nur seinem Wesen wie den bescheidenen Landesmaßstäben nach Großstadt, sondern gleichzeitig Küsten- und Hafenstadt ist. Der Hafen zwar hat noch keine Tiefseeanlage und kann daher mit dem von Haifa einstweilen noch nicht recht konkurrieren. Doch der Strand, kaum fünf Minuten vom Geschäfts- und Verkehrszentrum entfernt, von wo man ihn nicht einmal erahnt — der ist, besonders an ruhigeren Tagen und wenn nicht gerade ein sanitäres Badeverbot vorliegt, gewissermaßen der Städter ungetrübte „Erholung im eigenen Heim“.

Tel Aviv wurde vor 42 Jahren von einer kleinen Gruppe Jaffaer Juden gegründet — mit der bescheidenen Absicht, hier einen kleinen, etwas luftigeren Vorort anzulegen. Welch eine wohlwollende Ironie des Schicksals, daß ganz Jaffa selbst heute zur munizipalen Aera der Stadt Tel Aviv gehört und damit recht eigentlich ihr nächstgelagerter Vorort ist!

Gerade in Jaffa übrigens, im eroberten, hauptsächlich mit Neuwanderern besiedelten Jaffa, formt sich das neue Gebiet Tel Avivs — nicht eine neue Fassade, sondern die Bürgergeneration von morgen, die noch keine Tel-Aviver „Tradition“ hat und möglicherweise entscheidend dazu beiträgt, das Gepräge der Stadt noch einmal von Grund auf umzugestalten.

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