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Drang zur Form, flutende Fülle

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Immer mehr Menschen wenden sich den Gegenständen der alten Volkskunst zu. Was ist Volkskunst? Was wird gesammelt? Die Nachfrage kann nicht mehr befriedigt werden, Kopien ersetzen die echten alten Objekte. Das Phänomen wirft neue Fragen auf.

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Immer mehr Menschen wenden sich den Gegenständen der alten Volkskunst zu. Was ist Volkskunst? Was wird gesammelt? Die Nachfrage kann nicht mehr befriedigt werden, Kopien ersetzen die echten alten Objekte. Das Phänomen wirft neue Fragen auf.

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„Wie lebendig ist Volkskunst?“, so lautet die Frage an die Volkskunde, und so stellt sich diese Wissenschaft, die vor bald hundert Jahren das Phänomen Volkskunst entdeckt und dafür eben diesen handlichen Begriff geschaffen hat, selbst die Frage. Die Antwort, die gesucht wird, berührt somit einen Angelpunkt volkskundlicher Sehweise. Verschiedene Perspektiven kommen ins Spiel.

„Volkskunst“ ist im engeren Sinn zu verstehen. Nicht von Musik, Tanz und Theater, nicht vom Erzählen und Reimen und auch nicht von Spielgebrauch und Volksschauspiel, von den „Volkskünsten“ insgesamt ist die Rede, sondern vom Bereich der bildenden Künste, von handwerklich gestaltetem Formengut, das eng an volkstümlichen Brauch und Glauben gebunden, in überlieferten Werkformen und mehr oder minder unabhängig vom internationalen Stilwechsel in Hausarbeit und kleinhandwerklicher Betätigung hergestellt wird.

In dieser Hinsicht steht der Begriff erst seit jenem Zeitpunkt, da auch in Wien der Verein (1894) und das österreichische Museum für Volkskunde (1895) als früheste Institutionen einer werdenden Wissenschaft gegründet worden sind, in der wissenschaftlichen Diskussion und ist seither Gegenstand geteilter Auffassungen.

Nach allgemeinem Verständnis werden — im Gegensatz zu Hoch-und Stilkunst—als Volkskunst die seit der Jahrhundertwende modisch gewordenen Sammelgegenstände einer vermeintlichen „Bauernkunst pittoresk-naiver Gestaltungen“ bezeichnet. Dazu zählen weithin die dekorativ-ornamentalen Verzierungen altertümlichen Hausgerätes, Holzschnitzereien und auch die Kunst fürs Volk in den Massenerzeugnissen der älteren Graphik und ihrer traditionellen Bilderwelt.

In den Volkskundemuseen haben sich entsprechend der Entdeckung der Volkskunst durch das Kunstgewerbe des ausgehenden 19. Jahrhunderts für diese Gegenstandsgruppen des 16. bis 19. Jahrhunderts Sammel- und Konservierungskategorien nach Werkstoff eingebürgert: Flechtwerk, Holz, Keramik, Metall, Textilien, Glas, Malerei, Graphik. Darüber hinaus führte der Gesichtspunkt der funktionellen Zusammenhänge zur Stoffgliederung gemäß dem gebräuchlichen Kanon von: Haus und Stube, Möbel, Gerät für Haus und Arbeit, Töpferarbeiten als Hausrat, Tracht und Schmuck, Gewebe und Auszier, Brauchrequisiten,

Andachtsgegenstände und Zeugnisse des Volksglaubens.

Die Betrachtung dieser Gegenstandsgruppen bleibt praktisch eingeschränkt auf die Blütezeit der Volkskunst, nämlich die vorindustrielle Epoche des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, obwohl zeitliche Beschränkungen in die Vergangenheit und Gegenwart theoretisch ausgeschlossen sind.

Auf der anderen Seite: Die Kritik an dem Gegenstand „Volkskunst“ führte in der volkskundlichen Forschung dazu, die ideengeschichtlichen Beweggründe all der Entdeckungen und Bergungsaktionen — also die der wissenschaftlichen Hinwendung zu diesem Forschungsgegenstand und die Auf sammlungen von Volkskunstgütern durch die Museen — in die Betrachtung mit einzube-ziehen und die nachwirkenden weltanschaulichen sowie die Erscheinungsformen des kulturellen Rückwirkens („Redundanz“) zu erkennen.

Ein ökonomisch begründeter Begriff lag etwa dem Verständnis von Volkskunst zugrunde, wonach „Bauernkunst“ allein Eigenprodukte für den Eigenbedarf bezeichnete und diese von Erzeugnissen des „Hausfleißes“ und der Hausindustrie des Verlagswesens unterschied. Dieser Betrachtungsweise stehen Versuche gegenüber, die Volkskunst nach formalen Stilkriterien als gesunkenes Kulturgut oder als eigenschöpferisches Umformen von Hochkunstvorbildern begreifen zu wollen. Kultursoziologische Perspektiven wiederum unterscheiden zwischen Volkskunst als bäuerlicher und provinzieller Standeskunst vor allem des 18. und 19. Jahrhunderts und der volkstümlichen Kunst als standardisiertes und kommerzialisiertes Massenangebot im Industriezeitalter.

Die Volkskunstforschung ihrerseits hat bereits in den zwanziger Jahren Produzenten und Konsumenten gleichermaßen in die Betrachtung einbezogen und diese dem Bauern und der anonymen Größe Volk als romantischer Künstlerpersönlichkeit gegenübergestellt. Hersteller waren besonders das ländliche Handwerk, die vorindustriellen Werkstätten und frühen Manufakturen zu Zeiten historisch bedingter Ausbreitung eines größeren Wohlstandes und einer sich stärkenden kulturellen Kommunikation zwischen Stadt und Land (Hausierwesen) seit dem 18. Jahrhundert.

Solchermaßen ist „Volkskunst“ wohl als „historische“ Kategorie anzusehen. Was davon noch heute weiterlebt, muß indes als ein Relikt gewertet werden, das aus vergangenen Zeiten in die Gegenwart hereinragt — oder es führt in kunstgewerblicher und heimat-werklicher Ausübung, in der Handhabung des Hobbykünstlers oder gar in der Anwendung therapeutischer Kurprogramme ein zweites, wenn nicht ein drittes Dasein.

Dennoch: Auch in der Gegenwart macht sich ein populäres Kunstschaffen geltend, das, gleichfalls eingebettet in Tradition und Gemeinschaft, Ausdruck von Volkskunst als ästhetische Praxis ist. Gruppentheoretisch' orientierte Untersuchungen der Volkskunde, die über die bekannten Ansätze der Analyse von Subkulturäußerungen - zum Beispiel der Hirten-, Seemanns- und Bergmannskunst — hinausreichen, haben zur Kreativitätsforschung an anonymen Gruppen (etwa der Jugendkultur) und an unteren Sozialschichten geführt. Die Masse selbstproduzierter Bildschöpfungen wird in Begriffen wie „ephemere Kunst“, „Freizeitkunst“, „visuelle Kommunikation“, „subkulturelle Stilprägungen“ und so weiter gefaßt.

Die flutende Lebensfülle solcher Volkskunst der Gegenwart begegnet einem nicht allein in der Öffentlichkeit, sondern auch in privatem und halbprivatem Bereich und läßt sich in so vielgestaltigen Formen wie jahreszeitlichem Oster- oder Weihnachtsschmuck, Blumenteppichen zu Fronleichnam, als politische Manifestation, als spontane Fastnachtsmaskierung, Erntekronen und Früchtearrangements zum herbstlichen Erntedank, als Graffiti der großstädtischen Jugend an Betonmauern, Straßenmalerei, als Freizeitschnitzereien, Kleingartenskulpturen, Autobe-malungen, Tätowierung und dergleichen mehr in lebendiger Aus-Übung beobachten.

Mit der neuerlichen Nostalgiewelle und dem modischen Kulturkonsum werden auch bislang ausgeklammerte Industrieverbrauchsgüter in den Umkreis der Volkskunstforschung einbezogen und als Teil der Popularkultur erkannt (zum Beispiel die Wohnzimmergemälde). Kunstäußerungen in der Gegenwart sind heute zum Gegenstand der Volkskunst-Forschung und damit der Gegenwartsvolkskunde geworden. Volkskunst ist also auch eine „Gegenwarts“-Kategorie.

Der Autor ist Direktor des Osterreichischen Museums für Volkskunde in Wien.

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