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Erdhügel

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Mit geradezu selbstmörderischer Wut stürzte sich die Presse der CSSR am Ende des fünften Jahres nach dem Prager Frühling noch immer in den Anatomiesaal, in dem die Ereignisse jener dramatischen Monate unentwegt aufs neue seziert werden. Die Situation ist grotesk: während Tschechen und Slowaken, Ungarn und Deutsche in dem 13-Mil-lionen-Land das Bild eines friedlich arbeitenden Volkes bieten, dem nichts als Ruhe die erste Bürgerpflicht zu sein scheint, wühlen die Maulwürfe des ZK den Boden immer wieder auf.

Nacheinander etikettieren sie die aufgeworfenen Erdhügel mit: Konterrevolution, feindliche Agenten, kapitalistische Profitgier, Opportunisten. Die neueste Version lautet: der Liberalismus, angeblich ein Todfeind des Sozialismus, habe damals sein Werk getrieben und — setze es bis zur Stunde noch fort! Während im Westen Liberale und Sozialisten ihr Herz füreinander entdecken, fällt die Presse der CSSR über den Liberalismus als den Eckpfeiler der „bour-geoisen“ Ideologie her.

Allen voran marschiert wieder einmal die „Prager Volkszeitung“. Das Trauma, selbst eine Zeitlang Wortführer der Liberalisierung gewesen zu sein, beflügelt die linientreuen Redakteure dieses „Wochenblattes der Deutschen Werktätigen in der CSSR“ so sehr, daß selbst „Rüde Prävo“ dagegen zahm erscheint. Unter ständiger Berufung auf das Dokument „Lehren aus der Krisenentwicklung“ erinnert diese Zeitung an die Worte Lenins, daß die fremde politische ideologische Richtung, eben der Liberalismus, „nicht auf natürlichem Wege abstirbt, wenn sie nicht völlig des Einflusses auf das sozialistische Proletariat beraubt wird“.

Das ist ein bemerkenswertes Eingeständnis. Alles scheinheilige Reden von friedlichem Nebeneinander wird damit als Zwecklüge entlarvt. Das Ziel ist und bleibt, den Drang nach Freiheit, eben den Inbegriff des Liberalismus, mit Gewalt zu unterdrücken. Von alleine stirbt er nicht. Auch nicht in der CSSR. Hier um so weniger, als das „Proletariat“ alles andere als sozialistisch denkt. Noch die Wortführer des Prager Frühlings waren überzeugte Sozialisten. Die Invasion zerstörte dann auf einen Schlag nicht nur den Traum von einem liberalisierten Sozialismus, sondern auch den Sozialismus als solchen. Geblieben ist der staatlich verordnete Kommunismus.

Geblieben ist aber auch, mitten im Frostwetter, die wärmende Hoffnung, eines Tages wieder jene Freiheit zu besitzen, wie sie der Liberalismus als Antipode der autoritären Tendenzen versteht.

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