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Never „Buddenbrooks“?

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In der Deutschen Verlagsanstalt Stuttgart ist eine Romantrilogie Julius Tinzmanns erschienen, die sich „Das Klavier“ betitelt; mit ihren 1696 Seiten könnte sie den Stoff für ein Dutzend handlungsarmer, moderner Romane abgeben, so viel hat Tinzmann in die drei Teile seines Mammutbuches hineingeheimst. Als Nachzüglerautor der einst so beliebten Generationsromane und als geborener Erzähler behandelt er im ersten, „Ich bin ein Preuße“ über-schriebenen Teil der Trilogie die Geschichte der in einer Kreisstadt der Provinz Posen lebenden Arztfamilie Borkowski, welche, deutschen Patriotismus herauskehrend, trotzdem mit Polen und Juden gut auskommt und mit der behaglichen Genüßlich-keit eines wohlsituierten Bürgertums um die Jahrhundertwende die Freuden, aber auch die Sorgen ihres Familieniebens durchsteht und dabei von einem alten, aus Amerika stammenden Klavier der Marke „Chicke-ring“ als alle Borkowskis zusammenhaltendem Erbstück unterstützt wird. In häufig sich wiederholenden, kilainmalerischen Detailschilderungen, die sich wie ein Puzzlespiel zusammenfügen lassen, treten der in der ganzen Gegend geachtete Arzt und seine auf kleinstädtische Vornehmheit haltende Gattin, sein den politischen Gegenspieler herauskehrender Bruder, ein Rechtsanwalt, und die fünf zum Musizieren angehaltenen Kinder der Borkowskis auf. Die zum Haushaltsinventar gehörigen Dienstboten und vor allem der alte Kutscher Schräder, ein Original aus dem 1870er Kriegs jähr, helfen zur minuziösen Zeichnung des Kleinstadtbildes mit.

Der 2. Teil der Trilogie, er heißt „Deutschland, Deutschland“, widerspiegelt das harte, in die Hitlerzeit hineinschlitternde Geschehen, das hinter Krieg, Grausamkeit, Lebensnot und Geschäftsgier die Personen des ersten Romanteiles zeitweilig zurücktreten läßt. Wenn sie aber wieder mit den für sie neuen Zeitproblemen mehr schlecht als recht fertig zu werden suchen, stoßen die Borkowskigeschwister und die dazukommenden, angeheirateten Verwandten mit ihren so verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Ansichten, noch mehr mit ihren beruflich divergierenden Interessen hart aufeinander, und selbst das alte Klavier muß hinter einem neuen, modernen „Steinway“-Flügel armselig und unnötigen Raum beanspruchend zurücktreten.

Der 3. Teil, wenig treffend „Die Fahne hoch“ betitelt, zeigt den völligen Auseinanderfall der in einem staatsbürgerlichen Versagen sich aufreibenden Familie und stellt den durch die Länge der Trilogie schon etwas ermüdeten Leser vor die nicht leichte Aufgabe, sich in der Zerfahrenheit und dem Durcheinander des Handlungsmosaiks zurechtzufinden. Schließlich erlebt das alte „Ohicke-ring“-Klavier mit einem Losreißen von der Familie sein trauriges Ende als letztes zusammenhaltendes Band, indem es bei einer Versteigerung um schlechte 51 Mark der zweiten Nachkriegszeit in den Besitz eines auf Klavierspielen versessenen kleinen Buben übergeht. In dem alten, heimatlos gewordenen Instrument aber lebt die Musik weiter, die in der Roman-Trilogie wie der berühmte „Rote Faden“ in der Gestalt von Schicksalen sich hindurchzieht und in den drei Sätzen der in Tinzmanns Buch enthaltenen Lebenssymphonie vom beginnenden „Vivace“ zum traurigen Schluß-„Grave“ hinüberleitet.

DAS KLAVIER. Eine Romantrilogie von Julius Tinzmann. Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart. 1696 Seiten. Preis 29 DM.

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