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Viele halbe Stunden

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Den Prawy loben, hieße Arien in die Oper tragen. Es kann auch nicht die Absicht dieser Zeilen sein, die bereits vorhandene Prawy-Literatur um Unwesentliches zu vermehren. Nach dem Abschluß der im Hörfunk zum zweitenmal gesendeten Sonntagsserie „100 Jahre Wiener Oper", nach der vergnügten halben Stunde mit „Hänsel und Gretel" und jüngst mit „Cosi fan tutte“ auf dem Bildschirm, wäre in dieser Rubrik weniger die Veröffentlichung einer Meinung notwendig und fällig, die längst eine öffentliche geworden ist, als vielmehr ein Dank, der doch nur allzu leicht vergessen wird.

Dank für den Nachweis, daß es auch heute noch möglich ist, Wissenswertes und Tiefgründiges nicht in der wichtigtuerischen Geheimsprache der Fachleute, sondern im geliebten Deutsch des gebildeten Normalverbrauchers zu sagen. Dank für den Nachweis, daß geistvolle Konversation und ritterliches Verhalten nicht gestorben sind, daß man die Fülle des Wissens und der Erfahrung, ohne zu dozieren, ganz nebenbei und schmunzelnd verschenken kann, daß eine Stimme, hinter deren scheinbar ironischem Tonfall sich echte Begeisterung, Liebe und Bewunderung verbergen, so jugendlich bleiben kann, wie sie es um die Mitte der dreißiger Jahre war — damals an jenem Abend in der Wiener Staatsoper, als wir zum erstenmal erfuhren, daß der gertenschlanke und scheinbar alleswissende Jüngling dort i trne, in der ersten Reihe unseres Stehparterres, ein junger Herr von Prawy sei.

Daß er keiner Clique und keiner Claque angehörte, war unschwer zu erkennen. Seine Anwesenheit — und an welchem großen Opernabend war er nicht anwesend? — verbürgte Information, Fairneß, unbestechlich gerechtes Urteil und anständiges Benehmen. Mit der angeborenen Sicherheit des echten Souveräns gab Marcel Prawy niemals Befehle, weil er wußte, daß jedes seiner Worte und jede seiner Gesten widerspruchslos auf genommen, weitergetragen, nachgesprochen und nachgeahmt werden würden.

Als ein ansonsten hervorragender ungarischer Tenor im „Oberon" unseligerweise den allerersten Ton seiner großen Arie „schmiß", hörte man in die atemlose Schrecksekunde hinein Prawys ruhige Stimme: „Das kann passieren“, und alles war wieder im Gleichgewicht, die Arie ging glanzvoll zu Ende, der Applaus war donnernd.

Vor dem Beginn einer unvergeßlichen „Turandot" — die Jeritza war soeben aus Amerika zurückgekehrt und Marcel Prawy wußte darüber alle Einzelheiten — trällerte ein unentwegtes Stehparterremädchen ziemlich ungeniert über das Parkett hinweg: „Nes- sun dormi — auch du, Prinzessin, schläfst nicht.“ — „Und etwas anderes hast du dir nicht gemerkt?" fragte Marcel Prawy sehr nebenbei und schräg unter lässigen Lidern hervor. Die Errötende, eingeklemmt in ihrem „Kipfel“, stand ummauert von peinlichem Schweigen, bis das Licht erlosch.

So war das damals.

Und so ist das noch heute, wenn Marcel Prawy auf dem Bildschirm einer unterdessen vielfach gewandelten Welt erklärt, was Oper ist und was Oper eigentlich sein sollte. Und das möge, bitte, noch lange und noch oft geschehen, in vielen erwünschten und ersprießlichen halben Stunden — oder darf’s am Ende vielleicht ein bisserl mehr sein?

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