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Wenn das Eis kommt

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Die Alpengletscher sind wieder im Vormarsch. Während ihr Rückzug mit kürzeren Unterbrechungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die jüngere Vergangenheit angehalten hat, vollzieht sich neuerdings ein Umschwung. Waren etwa noch im Jahre 1964 fast 95 Prozent der alpinen Gletscher im Abschmelzen begriffen, so nehmen mittlerweile über zwei Drittel zu.

Diese Entwicklung hat zwar die Mehrzahl, doch keineswegs alle und auch nicht sämtliche Gletscher gleichmäßig erfaßt: wuchs beispielsweise das Sonnblick-Kees in der salzburgischen Granatspitzgruppe seit 1973 um 15 Meter an, schrumpfte sein unmittelbarer Nachbar - das Ödenwinkelkees im Stu- bachtal - zwischen 1960 und 1978 um einen Jahresdurchschnitt von 11,8 Meter.

Rekordhalter unter den Alpengletschern auf Vorwärtskurs ist gegenwärtig der Findelen-Gletscher bei Zermatt, der 1979/80 binnen anderthalb Jahren um 70 Meter vorstieß. Unter den österreichischen Gletschern erweist sich das Schwarzenstein-Kees in den Zillertaler Alpen mit einer „Streckenleistung" von 44 Metern im Jahr 1979 als wanderfreudigster Gletscher.

Die wissenschaftliche Beobachtung der Gletscherbewegungen und ihrer Auswirkungen aufNaturund(Energie-) Wirtschaft beschäftigt außer Geographen, Hydrologen und Klimaforschern auch Biologen, Zoologen, Ökologen und Ökonomen. Die Grundlage einer derart umfassenden Gesamtschau liefern langfristige MessungenderGrößen- ausdehnungen und Massenbilanzen eine Aufgabe, der man sich unter dem

Vorzeichen der Hochgebirgsforschung am Geographischen Institut der Universität Salzburg mit besonderem Nachdruck widmet.

Führender Vertreter der Glaziologie, der Gletscherkunde also, ist dort Univ.- Prof. Heinz Slupetzky. Er stand als Sohn des ehemaligen Pächters der zum ÖAV-Alpinzentrum ausgebauten Rudolfshütte am Weißsee sozusagen von frühester Jugend auf in einem Naheverhältnis zu Gletschern und befaßt sich schon seit über zwei Jahrzehnten mit regelmäßigen Messungen in der Zone des ewigen Eises. Seine Untersuchungen erfolgen im Rahmen internationaler Forschungsvorhaben und kommen auch dem Gletschermeßprogramm des

österreichischen Alpenvereins zugute.

Einen vorrangigen Ansatzpunkt bildet naturgemäß Slupetzkys einstiger „Haus-Gletscher“, das Sonnblick- Kees unweit der Rudolfshütte. Dieser 1,7 Quadratkilometer große Hanggletscher zwischen den Dreitausendern Granatspitze, Sonnblick und Hochfill- eck erscheint insofern besonders interessant, als er im Zuge der Ausgestaltung des künftigen Nationalparks Hohe Tauern durch einen Lehrpfad für breitere Publikumsschichten erschlossen werden soll.

Während des Gletscher-Schwundes seit Mitte des vorigen Jahrhunderts hatte das Sonnblick-Kees seine Zunge zur Gänze eingebüßt. Kühlere und niederschlagsreiche Sommer hatten von 1964/65 an einen allmählichen Massenzuwachs bewirkt. Nach und nach erhöhte sich die bereits stark dezimierte Deckschicht des Gletschers, seine Fließbewegung wurde aufs Doppelte beschleunigt und die dahingeschmolzene Zunge begann sich aufs neue zu bilden.

Pro Saison hatte das Kees bis in die sechziger Jahre rund 1,5 Millionen Kubikmeter Schmelzwasser verloren - mittlerweile stieg seine Eis-Schnee- Schicht wieder um nahezu 4,2 Meter an. Inzwischen ist allerdings erst der Stand von 1960 erreicht; um die Ausmaße von anno 1850 zurückzugewinnen, wären noch durch mehrere Jahrzehnte gletschergünstige (d. h. kühle und regnerische) Sommer vonnöten.

Die aktuelle Entwicklung des Sonnblick-Kees entspricht zwar nicht generell allen Alpengletschern, doch spiegelt sie eine zu 70 Prozent statistisch gesicherte Zunahme-Tendenz wieder. Ganz allgemein rechnen die Glaziolo- gen mit einer weiteren Vergletscherung der Alpen, wobei entsprechend dem jeweiligen Massenzuwachs auch ein Vorstoß in niedrigere Regionen zu erwarten ist.

Zweifellos läßt dieses Phänomen Anzeichen einer zunehmenden Klimaverschlechterung in unseren Breitengraden erkennen. Trotzdem ist noch keine neue Eiszeit zu befurchten. Denn die sommerlichen Durchschnittstemperaturen extrem heißer und extrem kalter Jahre schwankten seit der letzten „Hochblüte“ der Alpengletscher im 19. Jahrhundert lediglich innerhalb eines einzigen Celsius-Grades. Bevor aber eiszeitliche Verhältnisse eintreten könnten, müßten diese Durchschnittswerte um mindestens zwölf ganze Grad absinken.

Die gegenwärtige Abkühlung unseres Klimas bewegt sich demnach in den Grenzen eines vergleichsweise normalen Jahrhundert-Mittels. Langfristig gesehen stellt auch der Vorstoß unserer Alpengletscher laut Professor Slupetzky ein „ganz normales Ereignis“ dar: hier und heute erscheint er dennoch sensationell.

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