Hindernis für modernes Rechtsverständnis?

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Welches Gericht?

Vor allem in islamischen Staaten gibt es Konflikte, ob ein staatliches Gericht (o.: in Pakistan) oder ein Scharia-Gericht Recht sprechen soll.

"Es gibt eine Fülle von Beispielen, die deutlich zeigen, dass die Scharia, verstanden als ein juristisches Schema, nichts anderes ist als ein menschliches Konstrukt."

Vor einiger Zeit hat mich ein Hochschulprofessor gefragt: "Wo kann ich im Koran die Paragrafen der Scharia nachlesen, ab welcher Seite finde ich sie?" Ich musste ihn enttäuschen, denn weder im Koran noch in der prophetischen Tradition (Sunna) ist die Scharia definiert. Das Wort Scharia kommt nur ein einziges Mal im Koran vor, und zwar nicht, wie es heute oft verstanden wird, im Sinne einer Ansammlung von Gesetzen. Dennoch ist unter Muslimen wie Nichtmuslimen die Annahme stark verbreitet, dass Scharia ein kodifiziertes Gesetzbuch sei.

Der Begriff "Scharia" ist ein arabisches Wort und bedeutet "der Weg zur (Wasser-)Quelle". Auf den Islam übertragen ist Scharia der Weg zu Gott, denn Gott ist die "Quelle", er ist der Anfang und das Ende,"von Ihm kommen wir und zu Ihm kehren wir zurück."(Q 2:156)

Was ist die Scharia?

Wird im Islam nach der Scharia gefragt, dann wird nach dem Weg zu Gott, zur ewigen Glückseligkeit in der Gegenwart Gottes gefragt. Welcher Weg führt aber zu Gott? Ist der Weg zu Gott wirklich ein juristischer Weg? Wird die Gott-Mensch-Beziehung im Islam in juristischen Kategorien definiert und bestimmt, sodass Gott zum Gesetzgeber reduziert wird? Ist Scharia wirklich Gottes Gesetz? - Fragt man in Indonesien, was Scharia sei, dann bekommt man andere Antworten als etwa in Saudi-Arabien. In Saudi-Arabien durften Frauen zum Beispiel noch bis vor zwei Monaten nicht Auto fahren. Die Gelehrten begründeten dies damit, dass die Scharia dies verbiete. Als hätte es in Medina im 7. Jahrhundert Autos gegeben! Nachdem allerdings der saudische König Ende des Sommers ein Dekret erlassen hat, welches Frauen das Autofahren erlaubt, änderten sich plötzlich die Ansichten der Gelehrten. Nun stehe das Autofahren für Frauen doch nicht mehr im Widerspruch zur Scharia. In Tunesien haben die Gelehrten bislang muslimischen Frauen verboten, nichtmuslimische Männer zu heiraten. Dieses Verbot wurde nun im vergangenen Sommer aufgehoben und auch hier alles im Namen der Scharia. Es gibt eine Fülle von weiteren Beispielen, die deutlich zeigen, dass die Scharia, verstanden als ein juristisches Schema, nichts anderes ist als ein menschliches Konstrukt. Sie ist ein gewachsenes Produkt historischer Versuche vieler Gelehrter, den Islam auszulegen und zu interpretieren. Diese Bemühungen sind prinzipiell ergebnisoffen. Daher kann man nicht von der Scharia sprechen. Wer von Scharia spricht, muss zuerst erklären, was er damit meint. Gelehrte bleiben jedoch Kinder ihrer Zeit und der Kontexte, in denen sie wirken. Diese beeinflussen ihr Schaffen und die Ergebnisse ihrer Interpretationen des Islams.

Die Dynamik der Scharia

Nun gibt es verschiedene Methoden, welche die muslimischen Gelehrten anwenden, um die Scharia zu bestimmen. Idealtypisch kann man zwei verschiedene Zugänge zusammenfassen: Der erste geht von der Abgeschlossenheit der Scharia aus. Er orientiert sich am Wortlaut des Korans und der prophetischen Aussprüche, ohne diese in ihrem historischen Kontext zu verorten. Das heißt, dass es etwa die in diesen Quellen vorkommenden Körperstrafen oder das patriarchalische Frauenbild auch heute so wörtlich umzusetzen gilt. Dieses Verständnis der Scharia steht zum Teil im Widerspruch zum modernen Rechtsverständnis, das die Menschenrechte und demokratischen Grundwerte als für alle verbindlich erachtet.

Der zweite Zugang geht hingegen von der Offenheit der Scharia aus. Nicht der Wortlaut der islamischen Quellen ist entscheidend, sondern deren ethischen Prinzipien, wie zum Beispiel Gerechtigkeit oder Verantwortlichkeit für die Schöpfung. Wie diese Prinzipien umgesetzt werden, ist nach diesem Verständnis keine Frage, welche die Religion zu beantworten hat, sondern die Lebenswirklichkeit der Menschen. Scharia wäre nach diesem Verständnis keine Ansammlung von Instruktionen und Gesetzen, sondern von ethischen Grundprinzipien. Aber nicht nur, denn die Scharia, verstanden als der Weg zu Gott, bedeutet auch die Entfaltung von Spiritualität, verstanden als eine persönliche Beziehung des Gläubigen zu Gott. Denn Gott ist kein Gesetzgeber im juristischen Sinne, sondern ein liebender Gott, der nach Mitliebenden sucht: "er liebt sie und sie lieben ihn."(Q 5:54)

Ein rein juristisches Verständnis von Scharia geht auf Kosten dieser beiden Aspekte der islamischen Lehre -Ethik und Spiritualität -und ist ein Hindernis für das konstruktive Zusammenleben in einem modernen pluralen Rechtsstaat, nicht aber ein spirituelles und ethisches Verständnis von ihr.

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