Mikrokosmos Konin

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Der englische Journalist und Filmemacher Theo Richmond machte sich auf die Suche nach Überlebenden aus der Stadt seiner Eltern und läßt sie in der Phantasie wieder auferstehen.

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Der englische Journalist und Filmemacher Theo Richmond machte sich auf die Suche nach Überlebenden aus der Stadt seiner Eltern und läßt sie in der Phantasie wieder auferstehen.

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Wer kennt schon Konin. Aber auch wenn jemandem diese Stadt kein Begriff ist, kann die Suche von Theo Richmond nach ihrer Geschichte für ihn sehr wohl von Interesse, ja faszinierend sein. Konin liegt zwischen Warschau und Posen und gehörte zu den ersten zwölf jüdischen Siedlungen, die in Polen gegründet wurden. Abgesehen davon weist die Geschichte der Stadt keine Besonderheiten und Berühmtheiten auf.

Dennoch hat der Journalist und Dokumentarfilmer Theo Richmond Jahre seines Lebens damit verbracht, die Geschichte des jüdischen Teils der Bevölkerung von Konin zu schreiben, bevor ihre Spuren endgültig getilgt werden konnten. "Meine Neugier war provinziell und beschränkte sich auf eine kleine Gemeinde. Ich wollte die einzelnen Menschen so kennenlernen, daß ich sie wiedererkennen würde," schreibt er.

Das ist gewiß ein Wagnis in einer Zeit, in der die Suche nach den Wurzeln fast zu einem Industriezweig geworden ist und einen klischeehaften und sentimentalen Beigeschmack bekommen hat.

Die Ergebnisse, die von Richmond auf mehr als 500 Seiten zusammengefaßt wurden, mögen für den Historiker wenig Neues bringen. Doch dennoch handelt es sich um ein wegweisendes, bemerkenswertes Buch: Das Ergebnis eines Besessenen, der den einzelnen Mitgliedern einer jüdischen Gemeinde ein Denkmal setzen wollte, der den Anekdoten über die Schuster und Rabbiner von Konin in England, den USA und Israel nachstellte. Konin wird durch die Arbeit Richmonds zum exemplarischen Fall, zum Mittelpunkt der Welt.

Für den, der sich dem Werk nähert, ohne zu wissen, was er zu erwarten hat, wird die Geduld auf eine längere Probe gestellt. Der Autor hat nämlich nicht eine Geschichte geschrieben, sondern den Prozeß seiner Annäherung an das jüdische Konin ebenso berücksichtigt wie seine Begegnungen mit den Zeitzeugen und die Suche nach ihnen. Nach 50 bis 60 Seiten wird klar, daß das, was sich zunächst wie ein Einleitungstext liest, das ganze Buch ausmacht, daß es Stilprinzip der Darstellung ist. Sobald der Leser dies erkannt hat, erweist sich die Art und Weise, wie der Autor sein Material ausbreitet, jedoch nicht als Schwäche, sondern schlägt als Stärke der Spurensuche zu Buche. Geschichte wird hier nicht chronologisch abgehandelt, sondern es ist immer die ganze Geschichte, die noch zu recherchieren ist, verfügbar, sprunghaft wie die Erinnerungen der Zeitzeugen. Die Person des Forschenden wird nicht ausgeklammert, verstellt aber auch nicht im Stil einer Selbstinszenierung den Blick. Die Zeugen der Zeit werden auch als Menschen geschildert, deren Leben weitergegangen ist. Faszinierend etwa der Abschnitt über die Zusammenkunft der letzten Koniner in New York, die sich zu einem Jizkor Memorial Meeting treffen. Vor den Feierlichkeiten gerät dieser letzte Rest der Überlebenden jedoch über Nichtigkeiten ins Streiten, das fast ein Gedenken unmöglich macht.

Richmonds Erinnerungsarbeit ist voll von berührenden Aspekten. Da wäre zum Beispiel die Geschichte von Lola Szafran, Vertreterin des "Bundes", der den Sozialismus auf Jiddisch gepredigt hatte, die schwerkrank ein Gespräch mit dem Autor führt, und deren Unterlagen und Fotos nach ihrem Tod plötzlich verschwunden sind, unwiderruflich verloren.

Nicht selten hört Richmond den Satz: "Sie sind 25 Jahre zu spät gekommen!" Ein Spruch wie ein Verdikt: Verloren und vergessen. Die Recherche ist ein Wettlauf mit der Zeit, bei dem der Autor immer gefordert ist, die alten Menschen zu überzeugen, doch über ihre Geschichte zu sprechen. "Ich mußte sie überzeugen, daß sie mir, einem Fremden aus London, ihr Zuhause öffneten, damit ich sie über ihre Vergangenheit ausfragen konnte, die manche von ihnen am liebsten vergessen würden. Ich fing an, meine Stimme zu hassen, die bestimmte Sätze wiederholte, als hätte sie solche Phrasen für ein einstudiertes Verkaufsgespräch auswendig gelernt."

Nachdem der Autor die Spuren Konins in der ganzen Welt ge- und besucht hat, fährt er ins tatsächliche Konin. Dort, am geographischen Ort, begegnet dem Wald Kazimierz, wo rund 8.000 Juden ermordet wurden, schildert seine Begegnung mit einer anderen Generation von Polen und stößt nicht immer nur auf Unverständnis. Die reale Begegnung mit seinem Mittelpunkt der Welt stellt auch das Ende der Spurensuche dar. "Es wäre falsch und sentimental, wenn ich behaupten würde, daß ich es bedauerte, diesen Ort zu verlassen. Ich spürte nichts. Vielleicht waren meine Gefühle erschöpft. Vielleicht ließ mich die Stadt auch aus ihrem Griff, weil ich jetzt sicher war, daß nicht sie mir etwas bedeutete, sondern die Menschen, die hier einmal gelebt hatten. Ihr Konin hatte sich tief in meine Seele eingegraben und würde immer in ihr weiterleben."

Leider hat der Verlag keinen Weg gefunden, der Leserin und dem Leser einen leicht gangbaren Weg durch das Labyrinth dieser Suche zu legen. Kurzbiographien der Zeitzeugen, mit Verweisen, wo diese im Buch noch zu Wort kommen, hätten dabei sicherlich geholfen. Damit hätte sich auch die Möglichkeit ergeben, das Buch auf verschiedene Arten zu lesen. Die persönlichen Pläne, die der Autor vom jüdischen Viertel angefertigt hat, könnten tatsächlich eine eingehendere Orientierung ermöglichen und sind weit mehr als ein Gag für die Innenseite des Buchumschlages. Geschichte ist nicht Dekor, eine Chance ist so vielleicht vergeben worden. Der Grandiosität dieses Unterfangen tut dies jedoch keinen Abbruch.

Konin. Auf der Suche nach der Stadt meiner Eltern Von Theo Richmond, Bertelsmann Verlag, München 1997, 573 Seiten, geb., öS 364,-

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