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Humanistischer Freud

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Natürlich wurde über Sigmund Freud und seine Schüler ausgiebig geforscht, im Lauf der Zeit haben sich Biblio--L 1 theken darüber angesammelt. Dennoch sind manche hochinteressante Fakten nie in weitere Bereiche der Öffentlichkeit gedrungen. Die Tatsache etwa, daß sowohl Freud als auch Alfred Adler, Theodor Beik, Otto Bank und viele andere aus diesem Kreis mit der humanistischen Tradition unserer Kultur in enger Verbindung standen und immer wieder auf wichtige ihrer Elemente zurückgrif-fen - das ist immer noch viel zu wenig bekannt.

Als ich einmal Adlers Tochter Alexandra darauf aufmerksam machte, daß ihr Vater in wichtigen Punkten Thesen von Aristoteles und Gedanken von Seneca folgt, war ihr das nicht klar. Sowohl Adlers Idee von der „Leitlinie, die jeder verfolgt", vom „Endziel", das er anstrebt, als auch der ständige Bezug auf die Gemeinschaft -sie entsprechen oft beinahe zitatgetreu Gedanken von Aristoteles, die dann bei Marc Aurel auftauchen. Adlers wichtigstes frühes Buch „Über den nervösen Charakter" trägt als Vorspruch ein Zitat aus Senecas „Briefen" (übrigens im lateinischen Original). Die Herkunft Freuds aus Quellen der Antike verraten schon Begriffe wie „Ödipuskomplex" und „Elek-trakomplex", sowie unzählige Beispiele aus der griechischen Mythenwelt, sodaß man ohne die Kenntnis von Homer und Hesiod bei der Lektüre Freuds oft nur schwer zurechtkommt.

Mit dem zeitlichen Abstand von Freud und der Gründerphase der Psychoanalyse wird immer deutlicher, mit welch gewaltigem Fundus an Bildung und Tradition die damaligen psychologischen Avantgardisten und Entdecker des Unbewußten arbeiteten. Beik und Rank setzten die Kenntnis der Klassiker von Homer über Goethe und Dostojewski bis in die jüngere Vergangenheit einfach voraus. Freud und Adler beziehen sich immer wieder auf Details bei Dostojewski (Raskolnikow, Karamasow, Der Jüngling), sie schrieben für belesene und auch in der Kunstgeschichte wohlinformierte Menschen.

Aber wohin ist das alte humanistische Gymnasium, wohin sind weiträumige historische Rildung und universales Interesse an der Welt entschwunden? Die Kenntnis der Sprache hinter der Sprache von Freud und seinem Kreis ging weitgehend verloren. Nicht Freud ist inaktuell, sondern die nachgewachsenen Generationen sind bildungslos geworden.

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