Sehnsüchte, Verzweiflung und Emotionen

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Im Wiener Akademietheater inszeniert der lettische Regisseur Alvis Hermanis mit einer Besetzung vom allerfeinsten Anton Tschechows Stück "Platonov“, das erst viele Jahre nach seinem Tod entdeckt wurde.

Anton Tschechows Jugendstück, das er vermutlich als noch nicht 18-jähriger Gymnasiast 1878 geschrieben hat, und das erst 16 Jahre nach seinem Tod 1920 bei dessen Schwester entdeckt worden war, ist für so manchen nur von literaturwissenschaftlichem Interesse.

Dieser frühe Wurf eines Hochbegabten ist ungestüm und überbordend. Und doch enthält er schon alles, was Tschechows Stücke noch heute so reizvoll macht.

Detailtreue und Naturalismus

Er entwirft das Panorama einer Gesellschaft im Umbruch - und gerade in der Unübersichtlichkeit, mit der er die Beziehungen seiner Figuren zueinander skizziert, ist das "Stück ohne Titel“ oder "die Vaterlosen“ wie es zunächst auch hieß, von stupender Aktualität. Dem lettischen Regisseur Alvis Hermanis gelingt es, das in seiner über fünfstündigen Fassung im Akademietheater deutlich zu machen. Denn man wähnt sich zunächst in einer beispiellos musealen Inszenierung aus dem vorvorletzten Jahrhundert. Massive Detailtreue, üppiger Naturalismus, wohin das Auge blickt!

Am Beginn der Aufführung wurde die Stimme des Regisseurs über Lautsprecher eingespielt, in der er mitteilte, man werde die Schauspieler oft nicht verstehen, das liege aber nicht an den Schauspielern, sondern sei Teil seines künstlerischen Konzepts. Und tatsächlich schiebt Hermanis die Reden des 15-köpfigen Personals so durch-, in- und übereinander, dass der Zuschauer aus dieser murmelnden Toncollage vieles nicht verstehen kann. Auch die famose, einem akribisch betriebenen Realismus huldigende Bühne von Monika Pormale tut ihr Übriges dazu.

Ernst genommene Sätze

Das heruntergekommene russische Landgut des ausgehenden 19. Jahrhunderts zeigt einen zentralen Salon. Nach rechts geht es durch drei Glastüren in den Speisesaal, nach links wiederum durch gläserne Sprossenfenster auf die Veranda und in den durch einen Birkenhain begrenzten Garten. Hermanis lässt ausgiebig in den schlecht einsehbaren Seitenräumen oder noch vielmehr in allen drei Räumen gleichzeitig spielen und sprechen. Das wirkt wie ein Tableau aus einer fernen Zeit, ein stillgestelltes Bild am Ende einer Epoche. Nicht alles kann gehört, nicht alles gesehen und verstanden werden. Das Erstaunlichste daran aber ist: Es macht eigentlich nichts! Denn Tschechows Sätze sind von Hermanis so ernst genommen, so bewusst und keinesfalls beliebig ineinander verschoben, dass der Zuschauer das Wesentliche mitbekommt. Und in diesem Gefühlspanorama von Sehnsüchten, Verzweiflungen, Emotionen beginnt man (nach einer Gewöhnungszeit), wirklich zu verstehen. Störend ist da vielmehr die Ansage zu Beginn, denn das Konzept ist durchaus zu begreifen …

Das Stück spielt während eines ganzen Tages, dessen Stimmungen Gleb Filshtinsky durch atemberaubend schönes Licht zu vergegenwärtigen weiß. Es handelt vom Verfall oder besser noch Zusammenbruch der Zivilisation, schildert den Untergang einer von Intellekt bestimmten Epoche. Versammelt wird in dem Landgut der noch jungen Generalswitwe Anna Petrovna (Dörte Lyssewski) eine müde gewordene, heruntergekommene Gesellschaft, die durch den Verlust des Glaubens an die eigene Gestaltungskraft betäubt (das heißt meist besoffen) richtungslos dahintreibt. Ihrer Hoffnungen und Willensstärke beraubt den Gang der Geschichte (mit)gestalten zu können oder wenigstens das eigene Leben besser, sinnvoller zu machen, verfällt sie in geistige Apathie, Langeweile, Trägheit, Kälte und moralische Gleichgültigkeit.

Wunderlich realistisch

Am deutlichsten wird diese nihilistische Epochensignatur am ermatteten Frauenschwarm, dem physisch erschöpften, handlungsunfähigen Gutsbesitzersohn und jetzigen Dorfschullehrer Platonov (einfach grandios: Martin Wuttke). Gleichgültig gegenüber dem Leben wie auch den Frauen (Sylvie Rohrer, Johanna Wokalek, Yohanna Schwertfeger), verkörpert er die Fragilität der Existenz. Seine nicht genau fassbare Lebenskrise, die Leere, der Ekel, die Ermüdung, die Einsamkeit und sein Versagen gegenüber den Anforderungen des Lebens sind uns so gegenwärtig, dass es einen schaudern machen müsste. Das zu zeigen, ist das Verdienst von Hermanis wunderlich realistischer Inszenierung!

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