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Der SS-Arzt, der sich weigerte, an der Selektion teilzunehmen

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Franz Danimann war einer von drei Auschwitz-Uberlebenden, die wenige Tage nach der Be-freiung die Nachricht von den dort begangenen Verbrechen nach Wien brachten.

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Franz Danimann war einer von drei Auschwitz-Uberlebenden, die wenige Tage nach der Be-freiung die Nachricht von den dort begangenen Verbrechen nach Wien brachten.

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Nach dem Auftritt von F-Haider vor ehemaligen SS-Mannern kommt der von Bernhard Frankfurter vor der Kamera zustande-gebrachten Begegnung des ehemaligen Auschwitz-Haftlings Dagmar Os-termann mit dem ehemaligen SS-Arzt Wilhelm Munch besondere Bedeu-tung zu. Das Protokoll liegt nun als Buch vor. Munch war Leiter des „Hy-gieneinstitutes" im Vernichtungsla-ger. Er wurde in Polen freigesprochen, weil er die Teilnahme an den Selek-tionen fiir die Gaskammern verwei-gert und nach Aussage polnischer Haftlinge konkrete Hilfe in Einzelfal-len geleistet hatte. Seinen Beruf als Arzt konnte Miinch nach dem Zu-sammenbruch des NS-Regimes weiter ausiiben.

Frankfurter hatte Miinch bereits 1981 kontaktiert und einen Film ge-dreht. Schon damals wollte er ihn mit

einem weiblichen Auschwitz-Haft-ling konfrontieren. Und so saBen sich dann die beiden, die sich vorher nicht gekannt hatten, vor drei Kameras acht Stunden gegeniiber. Dagmar Oster-mann kam als „Geltungsjiidin" - Va-ter Jude, Mutter „arisch" - nach Auschwitz und iiberlebte durch gliickliche Umstande. Sie befaBt sich auch heute mit der Thematik Auschwitz, vor allem als Zeitzeugin in Schu-len, wo sie iiber ihre Zeit im Vernich-tungslager berichtet und mit jungen Leuten diskutiert, um die Lehren der schlimmen Vergangenheit fiir Gegenwart und Zukunft zu vermitteln.

Dies kommt auch in ihren Fragen an Miinch zum Ausdruck. Hier wird exakt, prazise und konkret gefragt. Was war das fiir ein Mann, der zwar selbst keine Verbrechen begangen hat, sich aber freiwillig zur Mord- und Ter-roreinheit SS meldete und ihr bis zum SchluB angehbrte? Was veranlaBte ihn, in Auschwitz zu bleiben? Wie hat er sich, angesichts der Gaskammern, der Haftlinge und Leichenberge, ge-fiihlt? Manche Fragen bleiben unbe-antwortet. Oft bricht Miinch seine Er-klarungen ab, weil es fiir vieles, was damals geschah, keine Erklarung gibt.

Zitat des Gefragten: „Die menschliche Konstitution ist so, wenn man langere Zeit in einer Extremsituation

ist, dann kann man es besser verkraf-ten als man glaubt." Also Gewbhnung an das Schlimme, Barbarische und Unmenschliche. Und als Dagmar Os-termann einwendet, daB sie sich auch in 33 Monaten Haft nie an die Situation in Auschwitz habe gewbhnen konnen, die Antwort: „Sie hatten ja auch keine Alternative."

Ziel des Gespraches war fiir Dagmar Ostermann nicht Versbhnung -die wird niemals mbglich sein —, sondern iiber die Geschehnisse zu informieren und sie der Nachwelt zu doku-mentieren. Die Bedeutung des bemer-kenswerten Buches besteht nicht zuletzt darin, daB der Massenmord in den Gaskammern von einem, der -nicht als Opfer - selbst dabei war, be-statigt wird. Was angesichts der Ver-suche, Auschwitz zu leugnen und zu bagatellisieren (Stichwort „Ausch-witz-Liige"), besonders wichtig ist. Das Buch ist vor allem durch die Form des direkten Gespraches und seine ein-fache, klare Sprache fiir jeden, insbesondere auch fiir Jugendliche, lesens-wert und zu empfehlen.

DIE UNHEIMLICHE BEGEGNUNG

Auschwitz — ein Tdter und ein Opfer im Gersprdch

Herausgeber: Bernhard Frankfurter Verlag fiir Gesellschaftskritik, Wien 1995. 168 Seiten, Ph., 6S248,-

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