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Erinnerung an Ulrike von Levctxow

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Sie pflegte auf einer Bank zu sitzen, am Rande einer von Pflaumenbäumen umsäumten Wiese, der sogenannten „Zwetschkenwiese“. Uralt schien sie, und Kleid und Kopfbedeckung aus der Biedermeierzeit, eine Krinoline und ein Schutenhut über dem schlohweißen Haar machten ihre Erscheinung beinahe unwirklich, zu einem Phantom der fernsten Vergangenheit. Wenigstens für die Kinder, die sie umstanden.

Es war Sommer, und man schrieb das Jahr 1899. Die „Zwetschkenwiese“ lag im Park des Schlosses Triblitz bei Leitmeritz in Böhmen, das damals noch zur k. u. k. Monarchie gehörte. Die kleine alte Dame hieß „die Baronin“. Mehr wußten die Kinder nicht,- unter denen auch ich mich befand. Die Baronin hatte stets zwei Handtäschchen bei sich, und diese „Pompadours“, wie man damals sagte, waren der eigentliche Gegenstand des Interesses der Kinderschar, denn sie enthielten seidige Bonbons aus der in der NShe befindlichen Lobositzer Könfitürenfabrik, sogenannte „Atlasbönbtms“.

Es kam der Augenblick, in dem sich die kleine alte Dame erhob, um ihren täglichen Spaziergang zu machen, quer durch den großen Schloßgarten, durch den „kleinen Garten“, durch den „Rosengarten“, vorbei an dem Glashaus mit Begonien, zur Fasanerie, zum Schweizerhäuschen und zum Schloßteich. Schloß und Teich waren ein umfangreicher Besitz, und jeder Teil hatte seine besondere Merkwürdigkeit. Im „Rosengarten“ gab es einen großen Strauch grüner Rosen, die der Stolz des Schloßgärtners Matthias Fiala waren, und einen exotischen riesigen Tulpenbaum; im Schloßgarten waren es die „Tri-blitzer Granaten“, Äpfel mit rosigem Fleisch und wunderbarer Süße; auf dem Schloßteich die weißen Schwäne und im Schloß selbst die große Bibliothek und viele kostbare alte Bilder, Stiche und Ölgemälde. Jetzt öffnete die kleine alte Dame eines der Handtäschchen und drückte in jede Kinderhand ein Häufchen Zuckerwerk. Der Fasanenmeister Josef Kaiina und der Dorfpfarrer Rakosnik begleiteten die Baronin auf ihrem Spaziergang. Sie öffnete das zweite Täschchen, das Futter für die Vögel, Brot für die Pferde und für die Schwäne, ja sogar Zucker für die Ameisen enthielt. Denn diese alte Dame war eine große Tierfreundin.

Warum ich das mit so viel Umständlichkeif erzähle und auch die Namen des Gärtners, des Pfarrers und des Fasanenmeisters nenne, hat seinen besonderen Grund.

Der Sommer 1899 ging vorüber, es kam der Herbst, und am 13. November starb die kleine alte Baronin. Auf dem Giebel des Schlosses wurde eine schwarze Fahne aufgezogen, und wir Kinder schauten hinauf zu dem Fenster, aus dem die Baronin zuweilen Kupferkreuzer zu werfen pflegte. Aus dem Schloß kam der Arzt - Doktor Karesch hieß er — und sagte, das Freifräulein Ulrike von Levetzow sei gestorben. Fünfundneunzig Jahre sei sie alt geworden. Sie sei eine vollendete große und berühmte Dame und die Freundin Goethes gewesen.

Erst viele Jahre später las ich die „Trilogie der Leidenschaft“ zum ersten Male. Und ich glaubte mich erinnern zu können, daß die kleine alte Dame wunderbar zarte, feine Hände und veilchenblaue Augen gehabt hatte. Aber ich weiß es nicht mehr genau, denn wir Kinder sahen ja nur die Krinoline und den Schutenhut mit dem schlohweißen Haar, ein Phantom der Vergangenheit .. Und selbstverständlich die beiden Handtäschchen.

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