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Der Romanerstling von Thomas Wollinger gräbt in der Vergangenheit.

In ihrem niederösterreichischen Heimatdorf Kirchwald entdeckt Erika Zeitlinger eine frühzeitliche Siedlung, die die Grundlage ihrer Habilitation im Fach Archäologie werden soll. Aber die Bewohner des kleinen Winzerdorfes sind über die sensationellen Entdeckungen der "Ausgrablerin" gar nicht erfreut. Zu viel anderes liegt eilig verscharrt im Inneren des Kirchbergs, ein SS-Kriegsverbrecher, ermordete russische Soldaten, ein slowakischer Flüchtling, der sein nach dem Krieg vom Dorf schnell vereinnahmtes Gut reklamieren wollte - im Grunde die gesamte unerledigte Geschichte des Dorfes seit dem Zweiten Weltkrieg, über die alle Bescheid wissen, über die aber niemand sprechen mag.

Die Archäologin lebt jedoch nur der Wissenschaft. Sie gräbt tiefer und stößt auf die Skelette einer Familie aus der Urnengräberperiode, einer Zeit, in der die Leichen in der Regel verbrannt wurden (der Roman deutet damit auf eine reale Entdeckung im Weinviertler Ort Stillfried). Um das Rätsel um diese Familientragödie zu lösen, imaginiert sie sich selbst in der Rolle der prähistorischen Mutter, die schützend über ihr skeletales Kind gebeugt gefunden wurde. Schließlich sieht sie sich als Wiedergängerin und glaubt, in der Konstellation ihres eigenen Lebens dieselben Muster zu erkennen, die sie in der Grabung vorgefunden hat. Ob der Leser die Darstellungen der Geschehnisse um 1000 v. Chr. als Träume oder Wahnvorstellungen der Protagonistin verstehen oder als "reale" prähistorische Parallelwelt zum Geschehen im 20. Jahrhundert ernst nehmen soll, bleibt dahingestellt.

Problematisch ist bei diesen Rekurrenzen jedenfalls, dass sie immer mit einer Bedrohung aus dem "Osten" verbunden sind - in grauer Vorzeit, im Zweiten Weltkrieg, im Kalten Krieg und zu Ende der achtziger Jahre, als der eiserne Vorhang (sehr zum Leidwesen der Bevölkerung) zu verschwinden droht. Das Dorf am Stacheldraht fürchtete sich seit jeher vor den unzivilisierten Reitervölkern, wiewohl seine Bevölkerung sich eingestehen muss, dass sie zumindest genetisch weitgehend Teil dieser Kultur ist. Der offen nazistische Archäologe Grohmann, eine böse Karikatur eines österreichischen Universitätsprofessors, sagt in seinen hetzerischen Tiraden die Wahrheit: "Ihr habt vielleicht die Sprache gelernt, aber das ist nicht mehr Deutsch-Österreich, schaut euch doch an, wir haben hier die Ukraine, Weißrussland, Georgien, alles hier versammelt. Euch sollte man in Alkohol konservieren!"

Dass kaum jemand im Roman den vielen rassistischen Diskursen widerspricht, ist wohl weniger dem Autor anzulasten, als der von ihm dargestellten Lebenswelt. Die Verschlüsselung historischer Katastrophen, wie etwa des Borodajkewycz-Skandals, ist wohl vor dem Hintergrund der archäologischen Grundmetapher zu verstehen, die sorgfältige Grabungen verlangt, um auf historische Zusammenhänge zu stoßen. Immerhin scheint es Erika durch die Rettung von drei Kindern am Ende dieses komplexen Buchs zu gelingen, die fatalen historischen Muster zu überwinden - den sich wiederholenden Plot der Geschichte zumindest zu durchlöchern.

Der Wiener Autor Thomas Wollinger hat einen spannenden Romanerstling geschrieben, der über die Geschichte der Region mit ihren explosiven nachbarschaftlichen Beziehungen nachdenken lässt.

Die Archäologin

Roman von Thomas Wollinger

btb, München 2004

287 Seiten, geb., e 8,80

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