Kohlmeise am Futterplatz - © Foto: iStock / sasimoto

Der Meisen Sein und Haben

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Die Evolution erreicht optimalen Fortschritt durch Anpassung an die Umwelt. Der Mensch sucht die Umwelt an sich anzupassen – und scheitert kläglich. Ein geflügeltes Gegenbeispiel.

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Die Evolution erreicht optimalen Fortschritt durch Anpassung an die Umwelt. Der Mensch sucht die Umwelt an sich anzupassen – und scheitert kläglich. Ein geflügeltes Gegenbeispiel.

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Als die Welt noch einfach erklärt werden sollte, lehrten die Gelehrten die Menschen, die Evolution finde in Jahrmillionenfrist statt und der reine Zufall treibe da die Gene zur optimalen Anpassung an die Umwelt. Lange umstritten waren Standpunkte, die den Rückfluss von aktueller Erfahrung auf das Genmaterial als möglich bezeichneten und zu beweisen versuchten. Tatsächlich ist die Epigenetik heute ein angesehener Zweig der evolutionären Forschung, der unter anderem helfen kann, anatomische Spezialisierungen von Tierarten zu erklären. Etwa dass manche Fledermäuse mit einer zahnbewehrten Mundöffnung auf die Jagd gehen, während sich bei anderen der Mund zu einem Rüssel entwickelt hat, mit dem sie Kolibri-artig Nektar aus Blütenkelchen saugen können.

Englische Biologen haben nun zudem am Beispiel der englischen Kohlmeise entdeckt, wie die Evolution quasi vor unseren Augen stattfindet und sichtbar wird. Die Schnäbel der Singvögel, so stellten sie fest, wuchsen durchschnittlich in den vergangenen 70 Jahren stark in die Länge, während sie gleichzeitig schmäler wurden. Auch das Rätsel, warum dem denn so ist, glauben sie stichhaltig beantworten zu können.

Die Meisen passen sich der in Europa seit Jahrzehnten üblichen Fütterung durch den Menschen an. Ein längerer und schmälerer Schnabel erreicht die in Netzen angebrachten Meisenknödel und Nüsse besser als ein breiter kurzer. Evolution findet demnach nicht nur permanent, sondern auch in vergleichsweise großen Schritten statt.

Menschliche Wunder der Anpassung

Man muss sich also fragen, ob ähnliche Wunder der Anpassung nicht auch beim Menschen eintreten können. Es würde schon eine Verinnerlichung des Grundkonzeptes der Evolution ausreichen: die Anpassung. Zum Beispiel dass sich Konsum und Verbrauchsverhalten an die Verhältnisse anpassen, die der Planet bietet. Die Menschheit macht derzeit vom umgekehrten Modell intensivsten Gebrauch: der Anpassung der Verhältnisse an den Menschen. Das funktioniert natürlich auf Dauer nicht. Es wäre so, als würden die Meisen ein Verfahren entwickeln, mit dem sie die gesamte Biosphäre in ihre Leibspeise Meisenknödel umwandeln können. Dieses „Meisozän“ würde über kurz oder lang den Planeten in eine Wüste aus Getreidepaste und Meisengack verwandeln und die Meisen aussterben lassen. Es scheint also so, als würde das Haben in allerhöchstem Übermaß das Sein vernichten. Und in diesem Sinn hat sich die Menschheit zu sehr verhabert, während sich die Meise vorbildlich entlang des verbesserten Seins manövriert. Gesucht ist also: die Metamorphose ins Naturgesetzliche. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.

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