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Das Absurde (in) der Literatur

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Ihren größten Erfolg erzielte die Literatur dieses Jahrhunderts als Bürgerschreck. Den „Terreur" der Guillotine und anderer Mordwerkzeuge zu su-blimieren und doch noch schrecklich genug erscheinen zu lassen, daß die bürgerliche Welt gewisse Autoren und

Werke nur mit Angst und Bangen zur Kenntnis nimmt, ist zweifellos eine erstaunliche Leistung. Und womit wurde sie vollbracht? Mit Sprachspielen und Verfremdungen! Mit deren Hilfe gelingt es, ein System von Tabus ins Wanken zu bringen. Sie sind

die Pfeiler eines Schongebiets, einer Art von Reservat, wo besonders empfindliche, vom Aussterben betroffene Begriffe wie zum Beispiel Demut, Glauben, Sinn am Leben erhalten werden. Wer diese Tabus und Sprachregelungen zerstört, wird von den einen als Heilbringer bewundert, von anderen als Literaturanarchist verdammt.

Der große Wert der Aufsätze von Johannes Twaroch besteht darin, daß der Autor völlig frei von aller Polemik eine sorgfältig und verantwortungsvoll kommentierte Dokumentation aus drei Jahrzehnten ausbreitet. Als beteiligter Zeitzeuge und Abteilungsleiter für Literatur im ORF ist er mit allen Details dieser Entwicklung vertraut.

So erweist es sich, daß die anarchische Literatur in vielem ein getreuer Spiegel der Gesellschaft ist, wie sie sich am Ende eines Jahrhunderts der großen politischen Experimente darstellt. Analog der Politik hat auch die Kunst, von dem Prestige der Naturwissenschaft inspiriert, experimentierend der Kunst Neuland abzugewinnen versucht. Ob sich diese Inspiration im Experiment selber bereits auf-

zehrt oder ob sie bleibende Ergebnisse liefert, ist eine Frage, die Twaroch nicht ideologisch und universalistisch, sondern in jedem Aufsatz gesondert und immer vorurteilslos angeht.

Daß sich eine anarchische Literatur aus Staatsräson von allen Parteien unwidersprochenjahrzehntelang behaupten kann, ja öffentlich gefördert wird, hat nicht nur das Argument der pluralistischen Gesellschaft für sich. Denn übermächtig erweist sich das Prinzip des Absurden, das darzustellen ein Ziel der modernen Kunst geworden ist. Nicht, daß man erst im 20. Jahrhundert das Absurde entdeckt hätte, aber dessen Bedrohlichkeit ist sicher so gewachsen, daß es heute gleichsam überall präsent ist, ohne daß die Gesellschaft fähig wäre, ausreichende Gegenkräfte zu entwickeln.

Mit Nüchternheit entfaltet der Autor die Geschichte dieses dramatischen Kampfes, welcher mit, in und durch die Sprache ausgefochten wird.

GESAMMELTE AUFSÄTZE. Von Johannes Twaroch. Merbod-Verlag, Wiener Neustadt 1992. 229 Seiten, öS 298,-.

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