6837392-1975_22_12.jpg
Digital In Arbeit

Föderalismus

Werbung
Werbung
Werbung

Der Autor, zuletzt Professor in München, vorher längere Zeit im Bayrischen Staatsdienst tätig, starb 1972, erst 53 Jahre alt. Er hat die Veröffentlichimg seines großen Werkes nicht mehr erlebt. In diesem Werk versucht er eine umfassende Darstellung des Föderalismus in seiner historischen Entwicklung. Er bietet eine Fülle von Quellenmaterial an, das noch weiterer Aufarbeitung harrt. Föderalismus wird dabei nicht nur als staatliches Organisationsprinzip behandelt, sondern vor allem als allgemeines soziales Prinzip der Gemeinschaftsbildung durch Konsens, als soziales Prinzip, das der Wahrung der Individualität und Integrität kleinerer sozialer Einheiten in einem umfassenden System und damit der Vielfalt in der Einheit dient. — Allerdings muß die Individualität lebensfähig und lebenswillig sein. Föderalismus als Freiheit wird einem nicht geschenkt.

Für das historische Verständnis des Begriffes Föderalismus unterscheidet Deuerledn zwischen politischen und gesellschaftlichen Ordnungen, die föderative Elemente entwickeln und den zeitgenössischen Ansichten und Ideen, die diese Erscheinungen erklärten oder ihre Bildung förderten. Föderative Ordnungen und föderative Vorstellungen beeinflussen einander gegenseitig. Ihrer Entstehung und ihrem Verlauf geht Deuerlein nach. Der Bogen spannt sich vom antiken Vorbild des Achäischen Bundes über föderative Ansätze des Mittelalters bis zur Neuzeit, über Althusius, Montesquieu, Pütter, Kant, The Federalist, Tocque-ville zum Föderalismus der USA, der Schweiz und Deutschlands im 19. Jahrhundert mit seinen Bundesstaatstheoretikern Gagern, Pfizer, Welcker und Wadtz. Der Föderalismus als allgemeines Strukturprinzip wird mit Proudhon, Winkelblech, Frantz und Fröbel behandelt.

Den größten Raum nimmt die Auseinandersetzung mit dem föderativen Prinzip im heutigen Deutschland, genauer: der Bundesrepublik, ein. Am interessantesten aber sind die letzten Abschnitte über Renaissance und Krise des föderativen Gedankens

und die philosophischen Grundlagen des föderativen Prinzips. Deuerlein weist zu Recht auch auf die Bedeutung dieses Prinzips im Hinblick auf die Einigung Europas hin und zitiert Henri Brugmans: „Europa wird entweder der geographische Punkt aller schlechten nationalen Gewohnheiten sein oder aber es wird diese in Frage stellen. Nur die zweite Haltung ist eine Erneuerung. Sie allein ist föderalistisch.“ Die Chancen des Föderalismus werden in der Zukunft größer sein, als sie in der Vergangenheit waren. Das Buch klingt mit den Worten aus: „Föderalismus ist nicht eine Ideologie, etwa zur Verteidigung nicht mehr verteidigungswürdiger Einrichtungen in Staat und Gesellschaft, Föderalismus erschöpft sich

nicht in der Teilung der Staatsgewalt zwischen Gesamtstaat und Teilstaaten. Föderalismus ist nicht so ausschließlich ein Prinzip zur Bestimmung der verfassungsrechtlichen Verhältnisse zwischen Bundesstaat und Einzelstaaten. Föderalismus entsteht aus der Notwendigkeit des Menschen, sich zu vereinen, und dem gleichzeitigen Drang des Menschen, seine Freiheit in größtmöglicher Form zu bewahren. Föderalismus erwächst aus dem Wunsch, die Wechselbeziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft auszubalancieren, wobei das Recht des Individuums nicht geschmälert werden soll. Föderalismus ist ein Faktor der Staatsbildung und ein Element der Staatsentwicklung ... Diese summarischen Bestimmungen machen deutlich, daß es sich beim Föderalismus um ein weit ausgreifendes Element menschlicher Existenz in Gesellschaft und Staat handelt, dessen Verständnis durch Mißverständnisse, Fehlinterpretationen und -einstellungen verstellt wird.“

Deuerledns Buch regt nicht nur dazu an, sich mit der historischen und gesellschaftsphilosophischen Dimension des Föderalismus zu beschäftigen, sondern auch mit der Frage, inwieweit das föderative Prinzip ein Element der Demokratie ist. Demokratisierung im Sinne von FöderalMerung der sozialen Herrschaft und Kontrolle ist ein gesellschaftspolitisches Postulat der Zeit.

FÖDERALISMUS. Die historischen und philosophischen Grundlagen des föderativen Prinzips. Von Ernst Deuerlein. Paul-List-Verlag, München 1972, 368 Seiten, DM 28.—.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung