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Digital In Arbeit

Computer gibt Fläschchen

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In Intensivstationen steuern intelligente Computerprogramme die künstliche Ernährung und Beatmung von Neugeborenen.

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In Intensivstationen steuern intelligente Computerprogramme die künstliche Ernährung und Beatmung von Neugeborenen.

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Nasenschläuche, bläuliches Licht, Infusionsnadeln, unzählige Computer und Bildschirme - eine Intensivstation für Frühgeburten. Die kleinen Körper in den Brutkästen sind kaum größer als 30 Zentimeter und leichter als eineinhalb Kilo. Runde Plastiksensoren bedecken die Bäuche der Winzlinge. Lebenswichtige Körperfunktionen werden rund um die Uhr überprüft. Über-einandergestapelte Bildschirme zeichnen kontinuierlich Herzschlag, Atmung und Sauerstoffverbrauch auf.

Die Hochtechnologie hat in den Intensivstationen längst Einzug gehalten. Seit etwa vier Jahren wird in der Intensivstation der Universitätsklinik für Kinderheilkunde in Wien auch mit einer der zukunftsreichsten Technologien gearbeitet - der Künstlichen Intelligenz.

Oberarzt Christian Popow und sein Team entwickelten in jahrelanger Zusammenarbeit mit dem Österreichischen Forschungsinstitut für Artificial Intelligence (AI, Künstliche Intelligenz) ein Expertensystem für die Zusammenstellung der künstlichen Ernährung von intensiv behandelten Früh- und Neugeborenen. Seit kurzem wird das System auch in der Praxis verwendet.

Die einzelnen Inhaltsstoffe, etwa Eiweiß, Kohlenhydrate oder Vitamine, müssen dabei genau auf die Bedürfnisse, den Gesundheitszustand, das Gewicht und Alter der Neugeborenen abgestimmt werden. „Das sind teilweise gefinkelte Bechenprozeduren, die früher mit dem Taschenrechner einen Rechenaufwand von ein bis zwei Stunden für den Arzt bedeuteten", verdeutlicht Kinderarzt Popow den Vorteil des neuen Systems.

Heute kann ein einfach zu bedienender Computer die gesamte Arbeit in wesentlich kürzerer Zeit erledigen und ist dabei erheblich weniger fehleranfällig. „Ich bin begeistert von diesem System", sagt der Kinderarzt. „Wir machen in Kürze eine neue Intensivstation auf. Ich möchte, daß dieses System dort als primäre Grundlage verwendet wird."

Das „intelligente" Programm macht zusätzlich auf Fehler aufmerksam, wenn möglicherweise ein Nahrungsbestandteil vom Arzt vergessen wurde oder unterbreitet Vorschläge, ob dem Baby etwa zusätzlich ein Medikament verabreicht werden soll.

Popow gab sich mit diesem Erfolg jedoch noch nicht zufrieden. Er und drei weitere Mitarbeiter entwickelten ein weiteres Expertensystem. Es dient zur Überwachung und Optimierung der künstlichen Beatmung von Neugeborenen. „Das war jedoch wesentlich aufwendiger", sagt Popow. „Wir mußten dem Computer in jahrelanger Arbeit Tausende Begeln eingeben." Popow hat mit einem Kollegen aus dem Landeskrankenhaus Mödling versucht, dem Computer ihre langjährige Erfahrung als Kinderarzt „beizubringen". Derzeit wird das System an beiden Spitälern mit Erfolg getestet.

Die Beatmung ist völlig auf die Bedürfnisse des Babys abgestimmt. Das System berücksichtigt, wie krank die Lunge ist, wie schnell sich das Baby von seiner Krankheit erholt und wieviel es selbst atmen kann. „Vorher haben wir diese Entscheidungen aus dem Handgelenk getroffen." Mit dem Programm, so der Oberarzt weiter, können sich in Zukunft vor allem junge Ärzte vom Computer helfen lassen, wie schnell oder wieviel etwa der Sauerstoffdruck oder die Frequenz verändert werden soll. Ein erfahrener Arzt hingegen kann seine Vorgehensweise immer noch mit der des Computers vergleichen. Die letzte Entscheidung treffe allerdings bei all diesen Systemen auf alle Fälle der Arzt, versichert Popow.

Erstmals kann ein Arzt mit diesem Expertensystem die kontinuierliche Entwicklung eines Patienten in den letzten Stunden oder Tagen aufzeichnen lassen und dadurch bei der Behandlung berücksichtigen. „Bei der großen Zahl an Patienten kann man immer nur schauen, wie es ihm im Moment geht", sagt der Kinderarzt. „Was fünf Minuten vorher war, oder wie es ihm nachher gehen wird, blieb bisher oft unberücksichtigt."

Für die Zukunft stellt sich Popow ein System vor, das den gesamten Patienten in seinem Krankheitsverlauf darstellen kann. Das Expertensystem soll den Gesundheitszustand des Patienten von der Diagnose bis zur Entlassung aus dem Krankenhaus verfolgen, mit anderen Patienten vergleichen und dadurch an Erfahrung gewinnen. „Die Vision ist die, daß das Expertensystem Therapiepläne entwickelt und damit den Therapieerfolg und eventuell auftretende Komplikationen vorhersagen kann", erläutert Popow.

Die Autorin ist

Biochemikerin undfreie Mitarbeiterin der Furche.

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