Das Echo der Kastraten

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Countertenöre galten bis vor kurzem als Exoten, heute haben sie die Opernbühnen erobert.

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Countertenöre galten bis vor kurzem als Exoten, heute haben sie die Opernbühnen erobert.

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Bei Parties oder im Freundeskreis sang der angehende Tenor David Daniels zum Spaß oft und gerne Frauenpartien. Im Falsett gab der Amerikaner Alt- ja sogar Sopranpartien zum besten, und seine Zuhörer staunten über die Kraft und Ausdrucksstärke seiner Kopfstimme. "Weißt Du eigentlich, wie viel Geld du mit dem Zeugs drüben in Europa machen könntest?", ermunterten ihn seine Kollegen immer wieder, die ungewöhnliche Begabung nicht brachliegen zu lassen. Doch davor scheute Daniels zurück, obwohl er bei seiner Ausbildung auf die Grenzen seiner Stimme gestoßen war; gerade in den hohen Lagen, die er über alles liebte, versagte seine Stimme. Da er an eine mentale Blockade glaubte, wandte er sich an eine Psychotherapeutin. "Durch die Therapeutin begriff und akzeptierte ich schließlich das Falsett als unabtrennbaren, natürlichen Teil von mir - einen Teil mit dem ich mich viel sicherer und wohler fühlte als mit der Tenorstimme", erinnert sich Daniels in dem Magazin "Opernwelt". Heute singt David Daniels nur noch im Falsett und ist zu einem der führenden Countertenöre der Welt geworden. Am 22. Mai bestreitet er im Rahmen der Salzburger Pfingstfestspiele ein Solistenkonzert im Mozarteum.

Bis vor kurzem galten Countertenöre als Exoten, heute sind sie aus dem Opernbetrieb und dem Sektor der Alten Musik kaum noch wegzudenken. Jochen Kowalski, ein anderer Star der Countertenor-Szene, mußte noch heimlich Unterricht nehmen. "Wenn das damals rausgekommen wäre", erinnert sich der Ostdeutsche, "wäre ich von der Schule geflogen". Heute feiern die Altisten und Sopranisten Triumphe, weil sie mit ihren Stimmen die für immer verloren geglaubte Klangwelt der Barockmusik zumindest teilweise wieder zum Leben erwecken.

Die heutigen Countertenöre treten nämlich die Nachfolge der Kastraten an, die während des 17. und 18. Jahrhunderts die Opernbühnen Europas (mit Ausnahme Frankreichs) beherrschten. Nicht ein Tenor, sondern ein Kastrat war primo uomo, das männliche Gegenstück zur prima donna. Monteverdi, Händel, Gluck, Mozart und noch Rossini schrieben für Kastraten, sogar der Cherubino in der "Hochzeit des Figaro" ist ursprünglich für einen Sänger des "dritten Geschlechts" geschrieben. (Diese Partien wurden in der damaligen Praxis durchaus auch von Frauen übernommen, Händel etwa besetzte männliche Schurkenrollen bevorzugt mit Frauen ...)

Die Kastraten stammten allesamt aus bitterarmen Bauernfamilien aus Süditalien. In Neapel gab es vier Konservatorien, die in Kalabrien und anderswo Knaben mit schönen Stimmen rekrutierten. Im Alter von rund neun Jahren wurde schließlich die am Rande der Legalität angesiedelte Operation vorgenommen: Indem man den Knaben die Hoden unter kochendem Wasser zerdrückte, wurde die Bildung des Adamsapfels verhindert, die Stimmfalten blieben so kurz wie jene im weiblichen Kehlkopf und die Knaben behielten das Timbre ihrer kindlichen Stimme; Körperbau und Lungenkraft waren hingegen die eines erwachsenen Mannes. Dies ermöglichte eine außerordentliche Virtuosität. Farinelli, einer der größten und berühmtesten Kastraten, soll drei Oktaven mit einem Triller auf jeder Note beherrscht haben.

Zehn Jahre lang erhielten die jungen Kastraten eine vollständige Ausbildung in Musik Literatur und Geschichte. Wer Talent hatte, dem eröffnete sich eine strahlende Karriere, wer keines hatte, wurde Priester - ein enormer sozialer Aufstieg für jemanden, dessen Geschwister bettelarme Analphabeten geblieben oder sogar schon verhungert waren. Trotzdem bereiteten die sich im Zuge der Französischen Revolution verbreitenden humanitären Ideale dem Kastratentum ein Ende. Joseph Bonaparte, 1806 bis 1808 König von Neapel, verbot die Kastration endgültig und ließ die Kastraten-Konservatorien schließen. Noch Rossini schrieb Opernrollen für Kastraten ("Tancredi", 1813), doch bald kamen die Giganten der Barockoper außer Mode.

Nur im Vatikan wurden weiterhin heimlich Kastrationen vorgenommen, obwohl diese Praxis von der Kirche seit 1587 verboten war. Im Chor der Sixtinischen Kapellle durften nämlich aus liturgischen Gründen nur Männer singen. Der letzte bekannte war der 1858 geborene Alessandro Moreschi, der bis 1913 sang. Von ihm gibt es sogar Tonaufnahmen, doch leider war er nur mittelmäßig talentiert und verfügte zudem nicht über die Technik der großen Opernkastraten.

Falsettisten - der Begriff Countertenor entstand erst in den fünfziger Jahren diese Jahrhunderts - hatte es auch zu Zeiten der Kastraten gegeben, da Frauen, wie gesagt, das Singen in der Kirche verboten war. Doch um 1850, als man lauter zu singen begann, kam auch das Falsett aus der Mode. Erst ein Jahrhundert später sang erstmals wieder ein Mann Kastratenpartien in Originallage: Alfred Deller. Für ihn schrieb auch Benjamin Britten die Partie des Königs Oberon in "Ein Sommernachtstraum" - die erste Alt-Partie des 20. Jahrhunderts für einen Mann. Die Uraufführung dieser Oper wurde 1960 zur Sensation.

Altisten und vor allem Sopranisten klingen hörbar anders als Frauen mit der gleichen Stimmlage, doch einen Countertenor muß man auch sehen, um der Faszination dieser Sangeskunst zu erliegen - eine Faszination, die David Daniels aus dem Widerspruch zwischen männlichem Körper und vermeintlich weiblicher Stimme erklärt: "Aus diesem Spannungsverhältnis entsteht ein Reiz, eine Anziehungskraft, die sicherlich auch einen erotischen oder sinnlichen Aspekt beinhalten kann."

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